Tod am Kanal
hatte Anna
Christoph einmal gefragt. Doch was hätte er ändern können? Die kleine Wohnung
unter dem Dach des Siedlungshäuschens hatte er möbliert gemietet. Es sollte nur
eine vorübergehende Bleibe sein, damals, als er nach Husum versetzt wurde. Ein
Aufenthalt, der nach seiner damaligen Vorstellung nur kurzfristig sein konnte,
da die Versetzung gegen seinen Willen erfolgte.
Inzwischen hatte er sich an Husum, die Arbeit und an
die Kollegen gewöhnt. Die Aufgabe machte ihm trotz aller Belastungen Spaß, und
er konnte sich nicht vorstellen, wieder an einen Schreibtisch in der
Polizeiverwaltung zurückzukehren. Dabei war er bis heute nur als
kommissarischer Leiter tätig, da die Position des Leiters der Kripo eigentlich
eine Stelle für den höheren Dienst war. Und Christoph erfüllte nicht die
Voraussetzungen für eine Beförderung zum Kriminalrat.
Hoffentlich kommt niemand auf die Idee, den
derzeitigen Zustand ändern zu wollen, dachte er. Ganz waren die Befürchtungen
aber nicht zu verdrängen. Und weil er nicht sicher sein konnte, für immer in
Husum bleiben zu können, hatte er sich bis heute nicht nach einer anderen
Unterkunft umgesehen. Selbst wenn er sich stets bemühte, seiner betagten
Vermieterin aus dem Weg zu gehen, so gehörte auch die alte Dame mit ihrer
aufdringlichen, aber liebevoll gemeinten Bemutterung zu seinem »neuen Leben« an
der Westküste. Die Distanz zu seiner Zeit in Kiel war größer als die
tatsächlichen Kilometer, die Husum von der Landeshauptstadt entfernt lag.
Christoph schob geistesabwesend seine Kleidung über
die Garderobenstange. Nach einer Weile stutzte er und besann sich, weshalb er
vor dem Kleiderschrank stand.
So geht es häufig den Frauen, schoss es ihm durch den
Kopf. Die stehen vor ihrer Garderobe und fragen sich: Was soll ich anziehen? Er
schmunzelte still in sich hinein und entschloss sich, einen blauen Blazer und
eine dunkelgraue Hose auszuwählen, dazu ein blaues Hemd und eine rotblau
gestreifte Klubkrawatte. Christoph konnte sich nicht erinnern, wann er das
letzte Mal einen Schlips getragen hatte. Heute gab es allerdings einen
besonderen Anlass. Polizeidirektor Grothe hatte seinen letzten Tag.
Ohne Eile nahm Christoph danach sein Frühstück ein,
bevor er sich auf den Weg ins Büro machte.
Mommsen sah auf, als Christoph ins Zimmer trat,
unterließ es aber, dessen Kleidung zu kommentieren.
Nach der ersten Tasse Tee rief Christoph bei der
Polizei in St. Peter-Ording an.
»Wir haben bisher nichts herausgefunden«, erklärte
Stefan Dettinger. »Niemand will etwas bemerkt haben. Nur das Saufgelage an der
Seebrücke ist aufgefallen.«
»Wie viele waren daran beteiligt?«
Dettinger lachte hell auf. »Ein Zeuge meint, es wäre
ein einsamer Trinker gewesen, während ein anderer beschwören möchte, dass dort
ein Dutzend junger Männer herumgegrölt hätte. Aber wir bleiben am Ball und
werden uns heute weiter umhören.«
Mommsen war aufgestanden. »Wir müssen«, mahnte er und
verließ als Erster den Raum.
Aus dem Besprechungsraum am Ende des Flurs drang
gedämpftes Stimmengemurmel. Es brach auch nicht ab, als Christoph den Raum
betrat. Sein »Moin« wurde von den Anwesenden erwidert.
Christoph ließ sich am Kopfende des langen Tisches
nieder. »Alles okay?«, fragte er in die Runde. Die Antwort bestand zum
überwiegenden Teil aus einem stummen Kopfnicken. Zu Christophs Überraschung saß
Große Jäger im Raum, obwohl er zuvor nicht an seinem Arbeitsplatz gewesen war.
Das Ritual der »Frühbesprechung« war den Mitarbeitern
der Husumer Kripo vertraut. Christoph berichtete zuerst vom aktuellen Stand der
Ermittlungen im Mordfall Ina Wiechers und zum Überfall auf Rebecca zu Rantzau.
Die Exkursion nach St. Peter-Ording vom Vortag erwähnte er nur mit einem
Halbsatz.
»Wie geht es Hilke?«, fragte ein Beamter dazwischen.
»Den Umständen entsprechend. Sie wird wahrscheinlich
heute das Krankenhaus verlassen und nach Hause fahren. Für den Dienst fällt sie
sicher eine Weile aus.«
»Soll ich mich um die beiden Jugendlichen kümmern, die
wir beim Ladendiebstahl im Kaufhaus erwischt haben?«, fragte Antje Vollmer, die
von Große Jäger wegen der Namensgleichheit mit einer Politikerin und –
zumindest was den Vornamen betraf – mit dem langjährigen Maskottchen des
Norddeutschen Rundfunks nur »das grüne Walross« genannt wurde.
»Das wäre gut«, sagte Christoph. »Was ist eigentlich
aus den Anfragen besorgter Eltern in Mildstedt geworden?«
»Da war nichts
Weitere Kostenlose Bücher