Tod Auf Dem Jakobsweg
zog ein frisches aus ihrer Rocktasche. Mechanisch, ohne zu denken. Doch allmählich fand sie zu ihrer Contenance zurück.
«Waren da noch andere?», fragte sie, als Leo schwieg.
Jakob runzelte die Stirn. Er hatte erwartet, sie werde Leo danken, sich womöglich für ihren Ausbruch entschuldigen. Das hätte zu ihr gepasst.
«Andere?», fragte Leo. «Sie meinen aus der Gruppe? Die kamen bald, nachdem ich den Hang hinuntergestiegen war. Alleine hätte ich Benedikt keinen halben Meter bewegen können, schon gar nicht bergauf.»
«Nein, andere. Männer, die nicht zur Gruppe gehörten, die Sie nicht kannten. Oder auch Frauen.»
«Im Hotel wohnten außer uns eine kleine Gruppe aus Schweden und zwei oder drei Paare, die alleine unterwegs waren. Allerdings glaube ich nicht, dass die den camino gewandert sind. Sie reisten alle mit ihren Autos. Und auf dem Weg?»
«Da waren natürlich noch andere Wanderer», erklärte Jakob, «oder Pilger, wenn Sie so wollen. Es ist Vorsaison, erst ab Mai sind auch die Pässe sicher schneefrei, jetzt trifft man noch nicht viele, aber doch einige auf dem Jakobsweg.»
Er fand es unnötig, von dem Sturm zu erzählen, der wenige Tage bevor er mit seiner Gruppe über den Pass gegangen war, eine andere zur Umkehr gezwungen hatte, weil ein eisiger Orkan Bäume umgestürzt und mit seiner Wucht die Wanderer gefährdet hatte.
«Wir sind einigen begegnet, ja. Wir haben sie überholt oder sie uns. Alle pilgern nach Westen, nach Santiago, kaum jemand geht den camino auch wieder zurück. Also trifft man unterwegs außer in den Pilgerherbergen nur wenige, zum Beispiel, wenn jemand Pause macht oder unter einem zu schweren Rucksack besonders langsam vorankommt. Oder wenn man selbst besonders schnell ist, was für uns nicht zutrifft. Wir gehören zu denen, die häufiger überholt werden, als dass sie andere überholen.»
«Benedikt ist nicht leichtsinnig», sagte Ruth Siemsen nachdrücklich, als hätte sie nicht zugehört, «das war er nie. Er ist sehr verantwortungsbewusst. Irgendetwas muss geschehen sein, jemand...»
Wieder pressten sich ihre Lippen aufeinander, und ihre Hände ballten und streckten und ballten sich ruckartig.
«Ich habe nur einmal gesehen, wie Benedikt mit einem Mann gesprochen hat, der nicht zu unserer Gruppe gehört», sagte Leo. «Sie schienen sich zu kennen. Es war in Bilbao im Guggenheim- Museum, ich nehme an, Benedikt kannte ihn von einem Besuch bei Nina, als sie dort hospitiert hat. Felix hat den Besuch erwähnt, ein weiteres Mitglied unserer Gruppe. Benedikt hatte ihm am ersten Abend in der Hotelbar in Burguete davon erzählt. Er war sicher keiner, der auf den Pilgerweg wollte. Dazu war er zu elegant gekleidet, einen solchen Anzug hat man bei einer Wandertour nicht im Gepäck.» Sie versuchte zu erkennen, was in Ruth Siemsens Gesicht, was hinter ihrer Stirn vorging, doch die sah starr geradeaus gegen die Wand.
«Warum fragen Sie nach anderen Leuten? Haben Sie einen Verdacht?» Ohne Jakobs abwehrend gehobene Hände zu beachten, fragte Le weiter: «Glauben Sie, jemand hat Benedikt den Abhang hinuntergestoßen?»
Nun sah Frau Siemsen sie an. Ihre Augen blickten hart, prüfend und zugleich abweisend.
«Es ist nur die Angst einer Mutter», sagte sie endlich mit blassem Lächeln, «wenn man Kinder hat, unterliegt man ständig einem gewissen Verfolgungswahn. Ich danke Ihnen, dass Sie gekommen sind», sie erhob sich abrupt, «nun möchte ich wieder zu meinem Sohn und bitte Sie zu gehen. Er braucht Ruhe. Der Stationsarzt hat meine Erlaubnis, Ihnen Auskunft zu geben, Herr Seifert. Falls Sie kein Spanisch sprechen, dürften Sie trotzdem keine Schwierigkeiten mit der Verständigung haben, Dr. Helada spricht gut Französisch und ein bisschen Englisch.»
, dachte Leo, gleichwohl empfand sie Respekt für die Kraft, mit der Ruth Siemsen ihre Fassung zurückgewonnen und ihre Vermutungen und ihr Misstrauen für sich behalten hatte. Die Vermutung, ein Mitglied der Gruppe trage — absichtlich oder unabsichtlich — Schuld an Benedikts Absturz.
So einfach ließ Leo sich nicht wegschicken. Ruth Siemsens Andeutung hatte ihre eigene Neugier und Unruhe verstärkt — selbst wenn sie tatsächlich nur Ausdruck eines einer geängstigten Mutter war.
«Nina muss am besten wissen, ob Benedikt außer uns jemanden getroffen hat. Haben Sie sie nicht gefragt?»
«Sie weiß auch alles, was Sie gerade von uns gehört haben», ergänzte Jakob. «Und noch
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