Tod im Jungfernturm
hätte. Warum sollte es nicht ein Anhalter gewesen sein, der während der Fahrt die Waffe entdeckt hatte? Ein verzweifelter Mensch auf der Suche nach Geld für Drogen?
Die wohlbekannten Stimmen aus dem Radio, das Geräusch des Staubsaugers aus der Wohnung unter ihr und der tropfende Hahn in der Küche bestätigten, daß alles war wie immer. Im Hinterhof klapperte das Müllauto mit den Tonnen. Der halbe Tag war verschwendet, weil sie ihr Entsetzen mit Alkohol betäubt hatte. Jetzt war es höchste Zeit, daß sie loslegte. Sie wollte in die Schmiede fahren und versuchen, eine neue Form zu entdecken. Es war ihr immer leichter gefallen, ihre Formsprache mit den Händen zu finden als mit ihren Gedanken. Mit dem Gießen von mittelalterlichem Schmuck verdiente sie Geld, aber das war es nicht, was ihre Künstlerseele begehrte. Eine neue Form, etwas Einzigartiges, was es noch nie vorher gegeben hatte, wollte sie aus dem uralten Rohmaterial des Silbers herausschälen. Darin lag eine große Sehnsucht, aber auch die Qual des Scheiterns. Und wenn sie ihren Ausdruck gefunden hatte, dann ergriff sie eine jubelnde Freude, die nur ihr Vater verstehen und teilen konnte. Eine solche Form konnte man nicht in Massen produzieren. Da hatte jedes Schmuckstück sein eigenes Handwerk. Es war das Einzigartige, das alle Konzentration verlangte, das Qual und vollendete Befriedigung darstellte.
Birgitta setzte Kaffee auf und widerstand ihrem Impuls, Arne anzurufen. Sie steckte zwei Scheiben Brot in den Toaster. Im Warten auf das große Gespräch über die Zukunft hatten sie einander nicht viel zu sagen. Ein paar höfliche Phrasen. Möchtest du Kaffee. Ja, bitte. Dein Vater hat angerufen und läßt dich grüßen. Danke. Die große Frage glänzte in seinen Augen, wenn er sie ängstlich und verletzt betrachtete. Ihre Antwort war das abgewandte Gesicht: Noch nicht, ich weiß noch nicht. Und doch wußte sie es schon in ihrem tiefsten Innern, aber sie wartete auf das Wunder, auf die Gabe der Zeit, Wunder zu vollbringen.
Birgitta zog ihre Jacke über und verließ das Haus. Vom Meer blies ein frischer Wind. Die Glocken des Doms läuteten, als sie das Fahrrad über den Marktplatz schob.
Sie fuhr im Gegenwind in ihre Schmiede nach Brissund. Dort setzte sie sich in den Sessel mit dem Lammfell und sah über das eisblaue Meer hinaus. Durch die großen Fenster, die nach Westen wiesen, konnte sie die Veränderungen der Jahreszeiten auf dem Meer beobachten, von der Zeit der Eisschmelze und den weißen Schaumkronen des Frühjahres, die in das leicht grüne Sommerwasser übergingen, bis hin zu dem stahlblauen Zorn der Herbststürme. Das kalte Tageslicht fiel auf die Eichenstümpfe mit ihren Ambossen. Das graue Licht reichte nicht richtig bis in das Innere der Schmiede, bis zur Arbeitsplatte und dem Werkzeug dort. Doch sie hatte die Deckenbeleuchtung nicht einschalten wollen, sondern es brannten gelbe Kerzen in den schmiedeeisernen Leuchtern. An der einen Wand hingen Seidentücher mit Batikmuster. Sie waren an der Decke befestigt und bewegten sich wie ein Meer aus gelben und roten Farbtönen im Windzug vom Fenster. In einer hohen Glasvitrine bewahrte sie ihre Werke auf, die silberne Brautkrone mit Bergkristallen, die wie Tautropfen in halbgeschlossenen Knospen glitzerten, ein paar Kastanien und Samenkapseln, die sie als Inspiration gesammelt hatte, Skizzen.
Ihr Blick fiel auf die Kollektion, bei der sie sich vom Frauenmantelkraut hatte inspirieren lassen. Bei der Bewerbung für die großen Silbergalerien in Stockholm war sie ärgerlicherweise abgelehnt worden. Die Begründung hatte gelautet, ihre Formsprache sei nicht konzentriert genug. »Unentschiedene Formsprache« stand dort. Aber sie würde es ihnen schon zeigen. Nächstes Jahr würde sie die perfekte Form in höchster künstlerischer und kunsthandwerklicher Qualität präsentieren.
In Stockholm hatte man ihre Idee mit dem Frauenmantel offenbar gar nicht verstanden. Die Alchimisten nannten die Pflanze auch Himmelstau, denn sie glaubten, daß eines Tages der Stein der Weisen vom Himmel fallen würde. Er würde so durchsichtig sein wie ein Tautropfen. Aber wie könnte man ihn finden, wenn er nicht vom Blatt des Frauenmantels aufgefangen würde? Der Gedanke, daß jeder Frauenmantel ein potentieller Träger dieses Steins war, machte die Pflanze zur kostbarsten aller Gaben.
Birgitta hatte den Frauenmantel aus Silber geformt, mit einem Bergkristall in der Mitte. Der Wunsch nach der vollkommenen, perfekten Form
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