Tod im Staub
grundlegenden Fehler im ganzen System war.
Der Mann unter mir rollte das Stahlnetz auf, ich befestigte es, und so arbeiteten wir uns allmählich immer höher hinauf. Jetzt kam die nächste Stadt in Sicht, die Zacken der Dächer standen im Nebel. Die Stadt lag hoch über dem Land auf einer von Stützpfeilern getragenen, riesigen Plattform, so daß die über dem Land schwebenden Giftgase die Bewohner nicht erreichen konnten.
Ich verspürte plötzlich Sehnsucht nach der Stadt, obwohl ich wußte, wie überfüllt es in den düsteren Straßen der Metropole war.
Noch etwas konnte ich von hier oben erspähen. Ganz in der Nähe standen die Ruinen einer alten Ortschaft, die nach dem Bau des neuen Straßennetzes aufgegeben worden war. Zwar hatte man viele Gebäude abgerissen und den Schutt weggeräumt, um mehr Ackerland zu gewinnen, aber doch nicht alle.
Vor zwei Jahren war ich dort selbst zu Abbrucharbeiten eingeteilt worden. Während der »Landarbeitszeit« mußte man überall zugreifen. In jenen Ruinen dort drüben hatte ich ein Versteck mit Büchern gefunden und ein paar davon mit ins Dorf geschmuggelt. Sie lagen unter einer losen Fußbodenplanke unter meiner Pritsche.
Ich beschloß, noch einmal zu den Ruinen zu fahren und zu sehen, was ich vielleicht noch finden konnte. Ich hungerte danach, etwas Verbotenes zu tun.
Wir arbeiteten den ganzen Tag; in der Mittagspause brachte eine fliegende Kantine Rübensuppe. Als die Feierabendsirenen heulten, konnte ich ohne Schwierigkeiten zu der alten Stadt hinüberfahren, da ich der einzige aus unserem Dorf war, der an diesem Tag hier gearbeitet hatte. Den Aufsehern war es völlig gleichgültig, was mit uns geschah, nachdem sie unsere Arbeitskarten abgestempelt hatten.
Ich hielt mich unterhalb des Hügelkamms, um nicht von den patrouillierenden Wachgeräten erfaßt zu werden. Die Ruinen waren dunkel, sandbedeckt, vielversprechend. Der Traktor rumpelte über einen großen Schutthaufen. Ich schwang das Steuerrad herum und fuhr zwischen zwei Häusern hindurch unter das Vordach eines Gebäudes, das einmal ein Kaufhaus gewesen war. Jetzt konnte mich niemand mehr sehen.
Der Zeitfaktor war wichtig; ich mußte mich innerhalb einer bestimmten Frist nach Feierabend im Dorf melden, sonst würde ich nichts zu essen bekommen und in eine Zelle gesteckt werden. Trotzdem blieb ich eine Weile ruhig sitzen und ließ die Umgebung, in der meine Vorfahren gelebt hatten - wer immer auch diese unbekannten Optimisten gewesen sein mochten -, auf mich einwirken.
Das Schaufenster, vor dem ich gehalten hatte, war zerbrochen. Dahinter lag Dunkelheit, Dunkelheit und verschimmelte Dinge. Die Häuser waren nur noch Ruinen, leere Schalen, deren Inhalt von den Elementen zerfressen worden war. Die Bulldozer hatten den Schutt gegen die Hauswände getürmt, bis hinauf zum ersten Stockwerk. Ein trostloseres Bild konnte man sich nicht vorstellen. Dieser Eindruck wurde noch durch den kahlen Ackerboden und die kärglichen Pflanzen, die zwischen den Häusern wuchsen, verstärkt. Und doch erkannte ich den schwachen Abglanz einer menschlichen Lebensordnung, in der die Masse nicht der einzige Maßstab gewesen war, nach dem sich alles richtete. Hier vor mir lag eine tote Welt, in der das Individuum seinen Platz gehabt hatte.
Ich schob die Gesichtsplatte herunter und kletterte aus dem Traktor heraus. Rasch ging ich zwischen den Häusern hindurch. Hier mußte wohl das Stadtzentrum gewesen sein; ich erkannte das Haus, aus dem ich die Bücher geholt hatte, ohne zu wissen, welchem Zweck das Gebäude einmal gedient hatte. In den Büchern hatte ich dann mögliche Hinweise gefunden: Buchhandlung, Bibliothek, Museum, Lesesaal; aber welche der Bezeichnungen richtig war und welche Unterschiede zwischen ihnen bestanden, wußte ich nicht.
Das Gebäude war jetzt noch verfallener als damals. Die ganze Fassade war abgerissen worden, ehe man die Abbrucharbeiten einstellte; ich kletterte von der Rückseite aus in einen dunklen Raum hinein. Mein Herz hämmerte, meine Nerven waren unerträglich gespannt.
Etwas bewegte sich vor dem Fenster, durch das ich eingestiegen war. Ich drehte mich um. Zwei Männer sprangen herein und packten mich brutal bei den Armen. Ehe ich mich wehren konnte, legte sich eine schmutzige Hand über die Gesichtsplatte meines Helms und drückte meinen Kopf nach hinten.
Dann sahen sie den gelben Stern auf der Brust meines Anzugs.
»Das ist nur ein Landarbeiter!« sagte der eine.
Sie ließen mich wieder aufrecht
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