Tod in Blau
überzeugte.
Auf dem Weg nach draußen
kam ihnen Herbert von Malchow entgegen, der Leo einen vielsagenden
Seitenblick zuwarf und sich mühsam eine Bemerkung zu verkneifen
schien. Leo ignorierte ihn und legte sich im Gehen den Schal um, bevor sie
auf die windgepeitschte Straße hinaustraten.
Berns fuhr mit einem Wagen
vor und ließ die Kollegen einsteigen. Dann wendete er und machte
sich auf den Weg nach Schöneberg.
*
Er hieß Edgar, so hatte
er sich Paul jedenfalls vorgestellt. Von ihm wusste der Junge auch, dass
sie sich im Bananenkeller befanden. Der hieß so, weil im Haus über
ihnen mal ein großer Obstladen gewesen war. Jetzt sollte es
abgerissen werden, aber bis dahin krochen hier die Leute unter, für
die im Asyl kein Platz mehr war. Was ein Asyl war, wusste Paul nicht, aber
er wollte auch gar nicht dorthin. Sie saßen nebeneinander auf einer
alten, verschlissenen Decke, den Rücken an der Wand, die Knie
angezogen, und unterhielten sich leise.
»Wat machste eijentlich
hier?«, fragte Edgar plötzlich.
Paul überlegte. Er
wusste nicht, ob er seinem neuen Freund die ganze lange Geschichte erzählen
sollte. Dann zuckte er mit den Achseln. »Mein Vater ist böse.«
»Det vasteh ick, meen
Alter hat mir ooch imma vakloppt«, meinte Edgar mitfühlend.
»Ick war der Jüngste von fünfen, die anderen ham sich imma
vasteckt und mir hat er erwischt. Dann jabet Senge, sach ick dir.«
Er erzählte, wie er mit dreizehn von zu Hause abgehauen war und sich
allein durchgeschlagen hatte. Als illegaler Gepäckträger am
Schlesischen Bahnhof, als Schankbursche, Stiefelputzer, er hatte alles
versucht, aber nichts durchgehalten. Dann kamen kleine Diebstähle und
Betrügereien, zweimal hatte er kurze Zeit eingesessen, bevor er
erneut auf der Straße landete. Paul lauschte der rauen Stimme, bis
der andere sich rührte und aufstand.
»Ick seh mir mal um,
'ne Pulle orjanisieren. Willste ooch wat roochen?«
Paul schüttelte den
Kopf. »Kommst du gleich wieder?«
Der andere nickte. »Ick
seh zu, det ick 'ne Schrippe für dir finde.« Mit diesen Worten
verschwand er in einem dunklen Gang.
*
Edgar war aus dem Keller
gekrochen und schlenderte Richtung Neue Friedrichstraße. An der Ecke
stand die imposante Zentralmarkthalle mit dem kuppelgekrönten
Eckturm. Sämtliche Zufahrtsstraßen waren mit Lieferwagen und
Pferdefuhrwerken verstopft; zahlreiche Obst- und Gemüsehändler
Berlins holten hier ihre Ware ab. In der Luft hing der Duft von Äpfeln,
vermischt mit dem durchdringenden Geruch nach Kohl, Zwiebeln und
Pferdemist; überall herrschte lautes Stimmengewirr. Edgar wunderte
sich, wie die Leute in dem ganzen Chaos den Überblick behalten
konnten, und nutzte die Gelegenheit, um sich drei Äpfel von einem
Karren zu schnappen und in seiner weiten Hosentasche verschwinden zu
lassen. Ein paar Möhren wanderten hinterher, dann schlich er an einem
Bäckerwagen vorbei und stibitzte vier ofenwarme Schrippen. Um sein Glück
nicht überzustrapazieren, stahl er sich davon, wieder Richtung
Bananenkeller. Ein Mann mit Gummischürze klebte gerade ein Plakat an
eine Litfaßsäule. Edgar warf einen flüchtigen Blick darauf
und hielt inne. Er trat näher und schaute sich die Zeichnung an.
»Da brat mir doch eener
-«
»Wat kiekste so?«,
fragte ihn der Plakatkleber und griff nach seinem Leimeimer. »Biste
scharf uff die Belohnung?«
Gesucht wird:
Paul Görlich, 12 Jahre
alt wohnhaft Togostrasse 79B, Berlin-Wedding
dunkle Haare, braune Augen,
klein gewachsen für sein Alter
vermutlich bekleidet mit
einem grauen Herrenregenmantel, der ihm zu gross ist
es ist eine Belohnung
ausgesetzt.
sachdienliche hinweise an das
Polizeipräsidium Berlin
Edgar konnte sein Glück
kaum fassen. Das Präsidium lag gleich um die Ecke.
*
Das herrschaftliche Haus, in
dem Richard vom Hofe wohnte, oder besser residierte, lag in der
Kaiserin-Augusta-Straße. Ganz in der Nähe gab es einen Park mit
einem See in der Mitte, der Blanke Helle genannt wurde. Leo Wechsler hatte
einmal gelesen, dass manche den Namen als »blanke Hölle«
deuteten oder mit Hei, der germanischen Herrin des Totenreichs, in
Verbindung brachten. Wie passend, dass ein Mitglied der
Asgard-Gesellschaft ausgerechnet in der Nähe dieser ehemaligen Kultstätte
wohnte. Ob vom Hofe das wohl wusste?
Leo blickte an der Fassade
empor. Geschwungene halbmondförmige
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