Tod in Florenz
ziemlich oft in der Schule fehlen konnte und damit durchkam. Der alte Mann kümmerte sich nicht weiter darum und unterschrieb ohne großes Aufhebens seine Entschuldigungen.
In den nächsten Jahren wurde es etwas besser. Sein neuer Lehrer nahm sich des kleinen Moretti ein bißchen mehr an und entdeckte, daß der Junge so etwas wie ein Rechengenie war. In wenigen Monaten hatte er das Buch fürs ganze Jahr durch, und danach war es schwer, ihn zu beschäftigen. Auf anderen Gebieten machte er allerdings kaum Fortschritte, und als die Pflichtschulzeit für den kleinen Moretti zu Ende war, verließ er die Schule ohne Abschlußzeugnis so gerade eben mit dem Nötigsten und fing in der Fabrik an.
Zweifellos ist er dort zumindest theoretisch verschwendet, aber er weiß es nicht und war nie unzufrieden mit seinem Los, wie auch später nicht. An seine kurze Glanzzeit als Rechengenie mag er sich wahrscheinlich nur schwach, wenn überhaupt, erinnern. Sein Charakter hat sich nie geändert seit dem ersten Tag, als ich ihn eifrig und mit konzentriertem Stirnrunzeln an einer Geranie arbeiten sah. Einmal in der Fabrik, hat er seine gesamte beträchtliche Energie darauf verwendet, ein geschickter Töpfer zu werden, und als der alte Mann sich zurückzog, war er nicht nur bereit, den Betrieb zu übernehmen, sondern auch zu vergrößern. Er begann neben den Rohren und Fliesen auch Blumentöpfe herzustellen, und es dauerte nicht lange, da hatte dieser Zweig sich so weit entwickelt, daß sie sich ganz darauf verlegten. Von seiner heruntergekommenen Fabrik aus exportiert er in alle europäischen Länder. Ich frage mich oft, was wohl unter anderen Umständen aus ihm geworden wäre … Den ganzen Rest seiner verbleibenden Energie steckte er in die Fürsorge seiner behinderten Geschwister – nicht, daß der Bruder ihm je Ärger gemacht hätte; er ist nicht in der Lage, bei der Führung des Betriebes zu helfen, wie ich es vorhergesehen hatte, aber er arbeitet Tag und Nacht und verrichtet die schwersten körperlichen Arbeiten. Die arme Tina war da schon ein größeres Problem. Sie hat ihm im Lauf der Jahre viel Kummer gemacht, aber er würde beide bis zum letzten Atemzug verteidigen, wie ein bissiger Wachhund, wie ihn die Haushälterin damals genannt hat. Er hat geheiratet – ich nehme an, das wissen Sie –, aber typischerweise ein Mädchen aus einem Waisenhaus, ohne Familienanhang und ohne Vermögen. Wieder jemand für ihn, dem er helfen, um den man sich kümmern konnte. Das ist ganz der kleine Moretti. Es ist aber offenbar gutgegangen, und sie haben ein kleines Mädchen. Sobald er es sich leisten konnte, hat er sich in der Stadt eine Wohnung genommen und ist aus der Fabrik ausgezogen. Sie ist nicht groß, glaube ich, aber er hat mir erzählt, es sei immer ein Zimmer für seinen Bruder frei – Tina war damals noch bei den Nonnen – und ich habe überlegt, wie seine junge Frau das wohl aufnehmen würde, denn Beppone wird nicht gerade jedermanns Vorstellung von dem gerecht, was man normalerweise gern bei sich im Haus hätte, aber ich schätze, er verbringt den Großteil seiner Zeit in der Fabrik und fällt keinem zur Last. Seit er Tina verheiratet hat, ist es schon ein stehender Witz in der Stadt, ob er wohl eine willige Braut für seinen armen, unbedarften Bruder finden wird, aber bisher ist es ihm offenbar nicht geglückt.
Meine Güte, da quaßle ich Ihnen die Ohren voll und vergesse dabei völlig, von Robiglio zu erzählen, der sie eigentlich wohl mehr interessiert als dieser ganze Familienklatsch. Daß, er nach der Nacht verschwand, in der Pietro Moro umgebracht wurde, versteht sich. In den Norden, nehme ich an, und später hörte ich, daß er kurz danach in die GNR eingezogen wurde. Als die Alliierten bedrohlich näherrückten, setzte sich auch sein Vater in den Norden ab, und am Ende des Krieges gelang ihm die Flucht in die Schweiz, mehr als Mussolini geschafft hat – aber er war ja auch ein gerissener Kerl, dieser alte Robiglio, viel gerissener, als sein Sohn je war. Wie gesagt, der junge Ernesto verschwand nach jener Nacht, und die Fabrik und das Haus Robiglio, beide durch Bomben beschädigt, standen jahrelang verlassen. Dann, in den frühen Sechzigern, bekam ich einen Brief von ihm. Ich darf sagen, daß dieser Brief für mich keine große Überraschung war, obwohl mich der Zeitpunkt erstaunte, der nur heißen konnte, daß er sehr gut über alles informiert war, was hier vorging. Der Brief kam nämlich knapp einen Monat nach dem Tod
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