Tod in Marseille
Laden und das merkwürdige Geschäftsgebaren seiner Besitzer einordnen zu können, hatte sie allerdings nicht lange gebraucht: Ihr war schnell klar, dass sie bei der Mafia eingekauft hatte. Darüber, weshalb Grimaud sie bestechen wollte, musste sie länger nachdenken. Dass die ganze Aktion ein Bestechungsversuch gewesen war, lag für sie auf der Hand.
Was wusste sie, von dem Grimaud wollte, dass sie es vergaß? Machte ihn nicht dieser deutliche Hinweis auf seine Beziehungen zur Mafia angreifbarer? Aber er hatte eine Spur gelegt. Sollte die Spur ablenken? Wovon? Er hatte keine Bedenken gehabt, sie zu der Razzia in das Bordell mitzunehmen. Ein besonderes Bordell. War ihr deshalb spontan eingefallen, Maria-Carmen nach Nissen zu fragen? Wegen der schwarzen Frauen? Das Mädchen hatte bestätigt, dass Grimaud und Nissen sich kannten. Grimaud hatte ihr erzählt, dass er bei Fofo und auch bei Maria-Carmen gewesen sei. Weshalb hatte er nicht davon gesprochen, dass sie, Bella, schon vorher dort gewesen war? Das Mädchen hatte ihm sicher von ihrem Besuch und von ihrer Frage nach Nissen erzählt. War es Nissen, von dem Grimaud ablenken wollte? Dass Grimaud bei Mama Rose kein Unbekannter war, hatte sie feststellen können. Sie wusste aus ihrer Zeit im Polizeidienst, dass es auch bei der Polizei Männer gab,auf die solche Einrichtungen eine bestimmte Faszination ausübten. Sie wusste aber auch, dass die allermeisten von ihnen trotzdem zwischen Beruf und Vergnügen zu unterscheiden wussten und sich nicht bestechen ließen, wenn es darauf ankam. Grimaud hatte sich ihr sowohl in dem Bordell als auch in dem Mafia-Laden als ein Mann mit guten Beziehungen zur Unterwelt präsentiert.
War es wirklich Gerd-Omme Nissen, von dem Grimaud ablenken wollte? Und warum vertraute sie ihm in gewisser Weise trotzdem? Weil er ihr sympathisch war oder weil sie selbst, was Mafia und Prostitution betraf, so abgestumpft war, dass es ihr nichts mehr ausmachte, wenn ihre Freunde – Freunde? –, wenn Bekannte, die ihr sympathisch waren, sich auf dieses Milieu einließen?
Da muss man schon differenzieren, dachte sie. Ohne mit der Mafia in irgendeiner Weise in Berührung zu kommen, lebt heute wahrscheinlich niemand mehr. Die Vermischung von legalem und illegalem Kapital war so umfassend, dass es einem durchaus passieren konnte, beim Einkauf von ein Paar Strümpfen in einem besonders hübschen Laden oder beim Wetten auf ein Pferd oder eine Fußballmannschaft der Mafia die Hand gereicht zu haben. Es gab graduelle Unterschiede; als Kundin war man vielleicht etwas weniger verwickelt, als es die Besitzerin des Strumpfladens sein mochte; wenn ihr der Laden denn gehörte und nicht irgendwelchen Dunkelmännern, die sie noch nie gesehen und an die sie nur pünktlich Gewinn abzuführen hatte. Wobei es interessanterweise auf die Höhe des Gewinns oft gar nicht anzukommen schien.
Nein, dachte Bella, Berührungsängste mit der Mafia zu haben ist ein Luxus, den man sich vielleicht noch leisten kann, wenn man allein am Rand eines Dorfes lebt und von den Nachbarn unabhängig ist. Es sei denn, von denen bestellt einer den Acker vor deiner Haustür mit dem Mais der Monsanto-Mafia … oder der Dorfarzt beschwatzt dich, die Spritze gegen die Schweinegrippe zu akzeptieren, weil er dem Vertreter des Pharmakonzerns zu viele von diesen Dingern abgenommen hat und nun nicht darauf sitzenbleiben will … oder …
Anders lag der Fall für sie allerdings noch immer in Sachen Prostitution. Obwohl in den vergangenen Jahren Heerscharen von Politikern, Sozialarbeiterinnen, privilegierten Huren, Gewerkschafterinnen und Psychologen dafür gesorgt hatten, dass Prostitution in der Gesellschaft als ein Beruf wie jeder andere angesehen wird (es gab noch ein paar Ausnahmen, ehrenwerte Menschen, die das nicht glaubten, aber die allgemeine Meinung nahm sie nicht zur Kenntnis), war sie, Bella, nicht bereit, sich dieser Auffassung anzuschließen. Manchmal, selten, geriet sie in Diskussionen zu diesem Thema. Ihre Ansicht, das Ausmaß der Prostitution sei ein Zeichen für den Grad, in dem eine Gesellschaft verrottet sei, wurde dann jedes Mal mit der Moralkeule erschlagen. Sie hatte deshalb schon lange darauf verzichtet, ihre Meinung in Sachen Prostitution öffentlich zu machen. Sie und Moral! Ihr hatte schon ihre Mutter Olga beigebracht, dass, was üblicherweise als Moral bezeichnet wird, nichts weiter ist als das Ruhekissen des Spießers, auf dem er sich niederlegt, wenn er seinem Nachbarn
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