Tod und Teufel. Bundesausgabe.: Ein Krimi aus dem Mittelalter.
seinen Häschern entkommen war.
Nur – wohin?
Wie eine Maus kroch er unter dem Karren hervor, geräuschlos und auf allen Vieren, und ließ seinen Blick über das Gelände schweifen. Dem ersten Eindruck zufolge befand er sich in einem weiträumigen Innenhof, mehr ein sanft ansteigender Platz, der links und weiter vorne an einer efeubewachsenen Mauer endete. Dahinter zeigte sich dichter Baumbestand. Rechts erstreckte sich eine langgezogene Reihe flacher Gebäude, in ihrer Gesamtheit einem klösterlichen Dormitorium nicht unähnlich, die den Platz von einem angrenzenden, größeren Areal trennte und zugleich einen breiten Durchgang ließ. Der plumpe Turm einer kleinen Kirche ragte weiter hinten in den Himmel, ebenfalls von Bäumen umstanden. In dem vordersten Gebäude war der Kutscher verschwunden. Jacop hörte von dort schwach Stimmen herüberdringen.
Er ging um den Wagen herum und gewahrte eine Mauer und ein Tor darin, durch das sie offenbar eingebogen waren.
Ein Tor, das soeben von zwei Männern geschlossen wurde.
Schnell zog er die Kapuze wieder über den Kopf, die ihm während der Höllenfahrt heruntergerutscht war. Er konnte sich auf das Gelände keinen rechten Reim machen. Ein Kloster schien es nicht zu sein, ebensowenig ein Dorf oder Weiler, und für eine Burganlage war es zu flach. Die Männer waren vermummt, aber keine Mönche. Am liebsten wäre er einfach aufund davongelaufen, aber das ging nicht mehr. Jeden Augenblick konnten sich die beiden umdrehen. Besser, er packte den Stier bei den Hörnern.
Mit klerikaler Würde ging er auf einen der Vermummten zu und tippte ihm auf die Schultern. »Verzeiht«, sagte er.
Der Mann drehte sich um.
Jacop prallte zurück. Er starrte in einen faulenden Totenschädel ohne Nase und Lippen. Wo das linke Auge hätte sein müssen, glänzten die Ränder eines Lochs in eitrigem Gelb. Das andere sah ihn ausdruckslos an.
Unfähig, ein Würgen zu unterdrücken, trat Jacop einen Schritt nach hinten.
Das Wesen streckte etwas nach ihm aus, das keine Hand mehr war, und kam näher. Aus seiner Kehle drang ein unartikuliertes Grunzen. Gleichzeitig war der zweite Mann herangetreten. Ein wilder Bart sproß in seinem Gesicht, das bis auf einige nässende Stellen unversehrt war. Argwöhnisch musterte er Jacop, der immer weiter zurückstolperte, ohne seinen Blick von der schrecklichen Gestalt abwenden zu können. Dann lachte er rauh.
Langsam kamen sie ihm nach.
Jacop drehte sich um und rannte auf die Kirche zu, wo einige Männer und Frauen zusammenstanden und sich leise unterhielten. Bei seinem Herannahen hoben sie die Köpfe und drehten sich zu ihm um.
Zerstörte Gesichter. Fehlende Gliedmaßen.
Im selben Moment öffnete sich die Tür des vorderen Gebäudes, in dem der Kutscher verschwunden war. Jemand ohne Unterschenkel kroch daraus hervor und schaute neugierig herüber. Mühsam quälte er sich in Jacops Richtung, während die zwei vom Tor ihn einholten und die vor der Kirche Anstalten machten, ihn einzukreisen. Entsetzt suchte Jacop nach einem Fluchtweg, aber wohin er schaute, war das Gelände von Mauern eingegrenzt. Er saß in der Falle. Sie hatten ihn umringt, bereit, sich auf ihn zu stürzen, ihn zu zerreißen, zu ihresgleichen zu machen. In Jacops Schädel schlug eine große Glocke. Er taumelte und sank in die Knie.
Einer der Männer öffnete ein Loch von Mund, aus dem der Geifer lief, und ging in die Hocke.
»Können wir Euch helfen?« fragte er freundlich.
Helfen? Jacop blinzelte und sah verwirrt in die Runde. Eigentlich, vorurteilslos betrachtet, konnte man nicht sagen, daß sie ihn umzingelt hatten. Im Gegenteil. Sie sahen scheu zu ihm herüber, hielten aber gebührenden Abstand.
Wieder lachte der Bärtige vom Tor. »Vor Hannes erschrecken sie beim ersten Mal alle«, dröhnte er. Es klang überhaupt nicht feindselig, nur wohlwollend und amüsiert. Aus der Brust des Gesichtslosen kamen wieder die seltsamen Laute, bis Jacop begriff, daß auch er lachte, so wie eben jemand lacht, der keinen Mund und wahrscheinlich auch keine Zunge mehr besitzt.
Die Glocke in Jacops Schädel pendelte aus. »Wo bin ich?« fragte er und stellte sich wieder auf die Füße. Sein Herz klopfte zu weit oben, direkt unterhalb des Gaumens. Der Mann wechselte mit den anderen einen verständnislosen Blick und sah dann wieder Jacop an. »Wie könnt Ihr den Campus leprosorum nicht kennen, wo Ihr doch selber hergekommen seid? Wir sind in Melaten.«
Der Campus leprosorum! Kölns größtes
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