Tod vor der Morgenmesse
einfallenden Sonnenlicht auf der Werkbank flimmerte, in tausend winzigen Pünktchen glitzerte und funkelte.
Sie ging darauf zu, strich mit dem Finger darüber und nahm ein paar der splittrigen Körnchen auf.
»Was ist das?« fragte sie Schwester Easdan.
»Zerstoßener Stein, Steinmehl«, antwortete die nach einem kurzen Blick auf die Kristallkörnchen.
»Korund?« vergewisserte sich Eadulf.
»Eben das«, bestätigte ihm Schwester Easdan. »Wir benutzen es für das Schleifen der Edelsteine. Wir wählen dazu besonders kristallhaltige Felsbrocken. Kristallines Gestein ist ja bekanntlich sehr hart. Die Kristalle sind fast glanzlos. Man muß sie zerstampfen, bis sie in winzig kleine Bröckchen zerfallen, |380| wie ihr sie dort seht. Dann suchen wir sie nach Splittern durch, die geeignet sind, mit dem Bogenbohrer Löcher in die Steine zu bohren, die wir später auffädeln wollen. Andere Teilchen, die feineren, verwenden wir zum Beschleifen der Steine. Den Vorgang nennt man
lecgéraigid
.«
Fidelma lauschte mit groß werdenden Augen. Ein triumphierendes Lächeln zog über ihr Gesicht, doch schon einen Moment später hatte sie sich wieder unter Kontrolle.
»Hast du nicht erzählt, daß euch der Ehrwürdige Cináed hier besucht hätte?«
Geste und Mimik sprachen für ein eindeutiges Ja.
»Wann war das?«
»Vor einiger Zeit.«
»Schon vor etlichen Monaten?«
»Vor zwei Monaten vielleicht, kurz bevor wir aufgebrochen sind. Warum fragst du?«
»Er kam zu eurer Werkstatt hier und hat sich mit dir und den anderen Schwestern unterhalten, sagtest du neulich. Hilf mir noch mal nach, worüber?«
Sie zuckte mit den Schultern.
»Ganz allgemein über unsere Arbeit und die angewandten Techniken. Das heißt, wenn ich’s genau überdenke, interessierte er sich vor allen Dingen dafür, wo die Steine gefunden wurden, für die Art der Steine und ihren Wert … Doch, ich glaube, sein Interesse galt vorrangig ihrem Wert.«
Fidelma schmunzelte vielsagend.
»Langsam begreife ich, wie alles zusammenhängt«, sagte sie mit deutlicher Erleichterung zu Eadulf. »Ich habe eine vage Vorstellung, wie und warum der Ehrwürdige Cináed damit zu tun hat.«
»Ich verstehe gar nichts mehr«, erwiderte Eadulf verwirrt.
»Uns ging es doch um ein Buch, das der Ehrwürdige Cináed |381| geschrieben hatte. Dabei richteten wir unser Augenmerk auf seine politische Arbeit. Erinnerst du dich? Unsere Aufmerksamkeit hätte seinem jüngsten Werk gelten sollen –
De arte sordida gemmae,
einer kritischen Abhandlung über den lokalen Handel mit Edelsteinen.«
»Glaubst du, man hat ihn ermordet, weil er ein Buch über unsere Arbeit geschrieben hat?« stieß Schwester Easdan entsetzt hervor.
»Es bleibt noch einiges zu erforschen, ehe wir Genaueres sagen können«, hielt Fidelma sie hin. »Es ist jedenfalls ein Jammer, daß das Buch vernichtet wurde; doch warum das geschehen ist, läßt sich erraten.« Sie gab einen Stoßseufzer von sich und schaute sich ein letztes Mal in der Werkstatt um. »Ich denke, ich habe alles gesehen, was ich sehen mußte.«
Sie traten durch die Tür ins Freie und warteten, weil Schwester Easdan das Gebäude erst noch verschloß.
Es war ein kaum wahrnehmbares Geräusch, mehr ein Luftzug, was Eadulf mit einem Warnruf zusammenzucken ließ. Einer impulsiven Eingebung folgend, stieß er Fidelma von der Stufe und zur Seite.
Sie fielen beide zu Boden, und ein schwerer Steinblock stürzte herab, just auf die Stelle, wo Fidelma noch einen Moment zuvor gestanden hatte.
Mit einem Aufschrei drehte sich Schwester Easdan zu ihnen um und starrte entgeistert auf den geborstenen Werksteinblock. Eadulf war bereits wieder auf den Beinen und half Fidelma auf, spähte aber gleichzeitig zum oberen Stockwerk des Gebäudes. Dort klaffte eine Lücke in der Brüstung, die der herabgestürzte Stein hinterlassen hatte.
»Wie gelangt man nach oben?« schrie er die wie gelähmt dastehende Schwester Easdan an. »Los, schnell!«
Sie war unfähig zu sprechen, wies aber auf eine Seitentür.
|382| Die war unverschlossen. Eadulf raste hindurch und eine schmale Steintreppe hinauf, die seitwärts am Gebäude entlangführte, gelangte in den zweiten Stock und von dort weiter auf das flache Dach. Dort war niemand zu sehen. Er blickte sich um, ging zu der Brüstung mit der Lücke und bückte sich, um die Nachbarsteine näher zu untersuchen, in die der Block eingepaßt gewesen war.
Er vernahm ein Geräusch hinter sich, schoß in einer Abwehrhaltung herum und
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