Todesacker
Warum auch nicht?
Er goss sich ein ziemlich großes Glas ein, hielt es gegen das Licht und bewunderte die Färbung des Glenfiddich. Torfig braun, mit einem goldfarbenen Schimmer. Herrlich. Er hätte ihn stundenlang ansehen können.
Palfreyman hatte ziemlich viel getrunken, als er noch bei der Polizei gewesen war. Das hatte ihm dabei geholfen, sich zu entspannen, wenn er abends oder in den frühen Morgenstunden nach Hause gekommen war – je nachdem, wann seine Schicht geendet hatte. Manchmal hatte er allein dagesessen und getrunken, wenn alle anderen geschlafen oder sich gerade aus dem Bett gequält hatten, um zu frühstücken, dem Pfeifen des Milchmanns zu lauschen und das Radio einzuschalten und sich die morgendlichen Nachrichten anzuhören. Er hatte getrunken, während die Sonne aufgegangen war und die Vögel zu singen begonnen hatten. Er hatte getrunken, um den Stress zu lindern und die Erinnerungen auszulöschen.
Nach gerade einmal achtzehn Monaten bei der Polizei war er zu einem schweren Verkehrsunfall mit mehreren Toten geschickt worden. Er war als Erster am Unfallort gewesen. Im Lauf der Jahre hatte er gelernt, mit den Toten fertig zu werden, doch der Umgang mit den Lebenden hatte ihm immer Probleme bereitet. Mit ihnen hatte er sogar heute noch Schwierigkeiten. Bei besagtem Verkehrsunfall war die arme Ehefrau eines Mannes, der dabei ums Leben gekommen war, so verzweifelt gewesen, dass er anschließend selbst beinahe in Tränen ausgebrochen wäre. Ein großer, stattlicher Polizist als emotionales Wrack. Was für eine Farce.
Später hatte er sich einen makabren Sinn für Humor angeeignet, wie fast alle anderen damals auch. Er hatte Todesopfer als Bonus betrachtet. Wenn jemand tot war, bedeutete das, dass er eine Aussage weniger zu Protokoll nehmen musste. Man musste abstumpfen. Man brauchte ein dickes Fell. Anderenfalls würde man wahnsinnig werden.
Er hatte Mitleid mit den Polizisten von heute. Diese Detective Sergeant – wie war ihr Name gleich wieder? Ach ja, Fry. Sein Gedächtnis ließ ihn noch nicht im Stich, zumindest noch nicht ganz. Und ihr Kollege, der Detective Constable. Cooper, natürlich. Diesen Namen konnte er unmöglich vergessen.
Die Polizisten von heute hatten es zweifellos schwerer, als er es gehabt hatte. Sie konnten die Anspannung nicht auf dieselbe Art und Weise abbauen, wie er es immer getan hatte. Keine geschmacklosen Witze, denn das wäre nicht feinfühlig gewesen. Oder, Gott stehe ihnen bei, nicht politisch korrekt. Und Trinken wurde heutzutage wahrscheinlich auch nicht gerne gesehen. Arme Schweine.
Palfreyman trank einen Schluck Whiskey und stellte fest, dass das Glas fast leer war. Er war sich nicht sicher, wie das passiert war. Anscheinend hatte er nicht aufgepasst. Er erhob sich von seinem Stuhl und ging zum Schrank, um sich nachzuschenken. Die Flasche war noch lange nicht leer.
Einige Erinnerungen waren selbst jetzt noch sehr deutlich. Der erste plötzliche Todesfall, zu dem er gerufen worden war. Er hatte die Nachricht über Funk erhalten, als er gerade mit dem Abendessen fertig gewesen war. Sein Magen hatte sich bei dem Gedanken zusammengekrampft. Bei den meisten Meldungen handelte es sich um Fehlalarme, hatte man ihm gesagt. Doch bei dieser war er sich sicher gewesen, dass sie Hand und Fuß hatte. Das hatte ihm der Geschmack in seinem Mund verraten: Hähnchen, gewürzt mit Furcht.
Es war ein später Winterabend gewesen, ganz ähnlich wie der heutige. Dezember, ja. Ein paar Wochen vor Weihnachten. Als sie angekommen waren, hatte in dem Haus kein Licht gebrannt, und es war richtig kalt gewesen. Sie hatten durch den Briefschlitz gerufen, aber keine Antwort bekommen. Sein Kollege hatte die Tür mit einem Rammbock geöffnet, und sie waren hineingegangen.
Der Bewohner des Hauses hatte sich im Wohnzimmer befunden. Er war ein regelmäßiger Zeitungsleser gewesen. Am Datum der Zeitung, die er in den Händen hielt, hatten sie ablesen können, wie lange er schon dort gelegen hatte. Es waren ungefähr drei Wochen gewesen. Palfreyman erinnerte sich, dass im Hintergrund Musik aus dem Radio gespielt hatte, und er erinnerte sich an den Mann, der auf dem Sofa gelegen hatte, wo er mit einer Hand auf der Brust gestorben war.
Mit einer trotzigen Geste kippte er den Rest des Whiskeys hinunter. Damals hatte es ein paar Minuten gedauert, bis er sich auf das Gelernte besonnen hatte, doch es gab immer Pflichten, die es zu erledigen galt. Dinge, die geregelt werden mussten.
Ja, auch die
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