Todesfee
Gesicht beinahe ausdruckslos war. Ihre Augen wirkten groß und rund, und sie waren trocken. Keine Trauer war auf ihrem Gesicht erkennbar, keine Spur von Tränen, wie man sie bei einer Person, die von plötzlichem Leid getroffen worden war, erwarten würde.
»Dies ist Muirgel«, erklärte Lígach rasch.
Der Blick, mit dem die junge Frau sie musterte, war sonderbar. Sie wirkte beinahe wie eine Schlafwandlerin, als sei sie sich ihrer Umgebung gar nicht bewusst.
|328| »Muirgel, dies sind Abt Laisran und Schwester … Schwester …?«
»Fidelma«, ergänzte Laisran und beugte sich zu der Leiche hinunter.
Fidelma blickte nach unten. Ruisín war groß, kräftig und breitschultrig und hatte dichtes, lockiges, rotes Haar und einen Bart, der einen Großteil seiner Brust bedeckte.
Fidelma kam ein Gedanke.
»Welche Arbeit hat Ruisín verrichtet?«, fragte sie Lígach leise.
»Er war Waffenschmied, Schwester«, antwortete der Stammesfürst.
»Hast du nicht gesagt, dass er nach dem ersten Krug Ale zusammenbrach?«
»Das habe ich.«
Laisran, der neben der Leiche kniete, stieß plötzlich hörbar die Luft aus.
»Ruisín ist tatsächlich tot. Es tut mir leid, dass dich ein solches Unglück heimsucht, Muirgel. Lígach, würdest du Muirgel für einen Augenblick nach draußen bringen?«
Lígach zögerte, dann streckte er die Hand aus, um Muirgel aufzuhelfen. Sie fügte sich nicht gerade willig, leistete aber auch keinen Widerstand. Es war, als hätte sie keinen eigenen Willen. Sie ließ es ohne ein Wort geschehen, dass Lígach sie aus dem Zelt führte.
»Ist vielleicht der Schock«, stellte Fidelma fest. »Ich habe schon gesehen, dass Leute so auf den Tod reagieren.«
Laisran schien sie nicht zu hören.
»Sieh dir seinen Mund an, Fidelma«, sagte er leise. »Die Lippen, meine ich.«
Ein wenig verwirrt beugte sich Fidelma zu der Leiche herab. Ruisíns Bart war so voll und buschig, dass sie ihn ein wenig zurückschieben |329| musste, um seinen Mund und seine Lippen sehen zu können. Ihre Brauen zogen sich zusammen. Ruisíns Lippen waren tiefblau verfärbt. Sie betrachtete seine Haut. Das war ihr vorher nicht aufgefallen: Die Haut war fleckig, als hätte jemand ein Muster darauf gemalt.
Sie blickte auf.
»Dieser Mann ist nicht an zu viel Alkohol gestorben«, kam Laisran ihrer Schlussfolgerung zuvor.
»Gift?«
»Ein besonders schnell wirkendes«, bestätigte Laisran. »Ich übe schon seit einiger Zeit nicht mehr die Kunst eines Apothekers aus, deshalb kann ich nicht sagen, welches es war. Aber der Tod ist nicht durch ein Übermaß an Alkohol eingetreten, so viel ist klar. Immerhin war Ruisín jung, stark und gesund. Und wenn sein Tod durch Gift verursacht wurde, dann …«
»Dann war es entweder ein Unfall oder Mord«, führte Fidelma den Gedanken zu Ende.
»Kein Gift würde durch ein bloßes Versehen bei einem Wetttrinken in einen Krug gelangen.«
»Also Mord?«, sagte Fidelma. »Der örtliche Brehon muss herbeigerufen werden.«
Lígach war unbemerkt wieder ins Zelt getreten und hatte die letzten Sätze gehört.
»Seid ihr sicher, dass Ruisín ermordet wurde?«, fragte er entsetzt.
Laisran nickte.
»Und du bist Fidelma von Cashel?«, fuhr Lígach fort, wobei er Fidelma anschaute. »Ich hatte schon gehört, dass du dich auf dem Jahrmarkt aufhältst. Wenn du es also bist, dann übernimm bitte die Aufgabe, herauszufinden, wie Ruisín zu Tode gekommen ist. Ich habe große Dinge über dich gehört. Dies fällt in meinen Zuständigkeitsbereich als Organisator des Jahrmarkts, |330| und ich räume dir nur zu gern das Recht ein, Nachforschungen anzustellen. Wenn wir den Vorfall nicht aufklären können, wird der Ruf des Aenach von Carman zerstört sein. Man wird sagen, dass vor der Nase des Königs ein Mord verübt werden und der Schuldige unerkannt und ungestraft entkommen kann.«
Bevor Fidelma noch protestieren konnte, hatte Laisran schon zugestimmt.
»Es gibt niemand Besseren als Fidelma von Cashel, um das Netz von Intrigen zu entwirren, das um einen Mord gesponnen ist.«
Fidelma seufzte resigniert. Sie hatte offenbar keine Wahl. Es war also an der Zeit, sich um die praktische Seite der Angelegenheit zu kümmern.
»Ich hätte gern ein Zelt, in dem ich die Zeugen in diesem Fall anhören kann.«
Lígach lächelte erleichtert.
»Ich stelle dir das Zelt neben diesem zur Verfügung. Es ist mein eigenes.«
»Als Nächstes möchte ich, dass sich alle Betroffenen draußen versammeln, auch die Witwe Muirgel. Ich werde
Weitere Kostenlose Bücher