Todesfee
und schritt langsam auf die Kapelle zu. Sie wollte schon an der Tür des Ehrwürdigen Gelasius vorbeigehen, als ihr Instinkt sie noch einmal die Hütte betreten ließ. Sie wusste nicht recht, warum, bis sie das Bücherregal sah.
Sie nahm die Bücher eins nach dem anderen in Augenschein. »Gaius Plinius Secundus«, murmelte sie vor sich hin, als ihr Blick an dem Buch hängenblieb, das sie hatte finden wollen –
Naturalis Historia
.
Sie begann darin herumzublättern, auf der Suche nach dem halbvergessenen Zitat.
Schließlich fand sie den entsprechenden Abschnitt und las ihn durch. Er enthielt genau das, was sie erwartet hatte.
Sie ging zum Bett hinüber, stieg auf die Bettkante und streckte die Arme nach dem Balken darüber aus. Für sie war er leicht mit den Händen zu erreichen. Sie trat wieder auf den Fußboden zurück. Dann begab sie sich in die Kapelle und stellte sich an die Innenseite der Tür, wie sie es vor kurzem schon einmal getan hatte.
Ihr Blick wanderte in der Kapelle umher. Dann schritt sie, einer vagen Vorahnung folgend, zum Altar und kniete davor nieder, jedoch nicht, um zu beten. Sie lehnte sich vor und hob den Saum des Altartuchs an.
Unter dem Altar standen ein silbernes Kruzifix und zwei goldene Kelche. In einem der Kelche lag ein Rosenkranz aus grünen Perlen. Fidelma zog die Gegenstände unter dem Altar hervor. Sie betrachtete sie und seufzte dann tief auf.
Mit dem Kruzifix und den Kelchen in ihren Armen kehrte sie zu Pater Maílín zurück. Er saß noch immer an seinem Schreibtisch. |380| Er wollte sich schon erheben, als sie eintrat, doch dann fiel sein Blick auf die Dinge, die sie trug. Er wurde blass und sank auf seinen Stuhl zurück.
»Wo hast du …«, begann er, in dem Versuch, durch einen letzten Rest von Gerissenheit der Situation Herr zu werden.
»Hör zu«, unterbrach sie ihn grob. »Ich habe dir bereits gesagt, dass deine Geschichte von den Dieben, die in die Kapelle einbrachen, Gelasius ermordeten und ihn dann in einem von innen verschlossenen Raum zurückließen, völlig unglaubwürdig ist. Als Nächstes habe ich herausgefunden, dass du das Werk, an dem Gelasius arbeitete, missbilligtest und es nach seinem Tod vernichtet hast. Sag mir, wie sich diese beiden Tatsachen zu einer sinnvollen Erklärung verbinden lassen!«
Pater Maílín schüttelte den Kopf.
»Die Söldner zu beschuldigen war ein Fehler. Das sehe ich ein. Es schien mir jedoch die einzig mögliche Ausflucht zu sein, die ich vorbringen konnte. Sobald ich erkannte, was geschehen war, lenkte ich die Brüder ab, ging schnell in die Kapelle und ließ die nächstbesten Gegenstände, die mir in die Hände fielen, verschwinden. Das Kruzifix und die Kelche. Ich versteckte sie unter dem Altar, wo du sie zweifellos entdeckt hast. Ich kehrte zu Gelasius’ Hütte zurück und nahm seinen Rosenkranz aus der Schublade. Danach war alles ganz leicht. Ich konnte nun behaupten, wir seien bestohlen worden.«
»Und du hast Gelasius’ Werk zerstört?«
»Ich nahm nur die Handschrift, an der Gelasius zuletzt gearbeitet hatte, an mich und vernichtete sie, bevor er damit die Seelen der Gläubigen verderben konnte. Sicher ist es besser, Gelasius so in Erinnerung zu behalten, wie er in jüngeren Jahren war, als er das Banner des Glaubens gegen alle Angreifer hochhielt und die Götzen der Vergangenheit besiegte. Warum sollten wir uns an ihn erinnern, wie er in seinen letzten Tagen war, |381| in seiner Senilität – ein alter, verbitterter Mann, der von Selbstzweifeln geplagt wurde?«
»Ist es das, was du in ihm gesehen hast?«
»Das ist es, was er wurde, und ich sage dies, obwohl er wie ein Vater für mich war. Er hat uns gelehrt, die heidnischen Götzen zu stürzen und den Sünden unserer Väter abzuschwören, die im Unglauben lebten …«
»Indem wir all das, was vor uns kam, verachten, verleumden und vernichten, werden wir unsere und die kommenden Generationen nur eines lehren: Verachtung für unseren Glauben.
Veritas vos liberabit!
«
Pater Maílín starrte sie fragend an.
»Woher kennst du dieses Zitat?«
»Du hast nicht Gelasius’ gesamte Notizen vernichtet. Gegen Ende seines Lebens erkannte Gelasius plötzlich den kulturellen Wert all dessen, an dessen Vernichtung er so bereitwillig mitgewirkt hatte. Der Gedanke begann ihn zu verfolgen, dass er, anstatt diesem Land Zivilisation und Wissen zu bringen, die Gelehrsamkeit Tausender Jahre zerstörte. Benignus schreibt, dass selbst der heilige Patrick in seinem missionarischen
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