Todesfrauen
so präsente Art, ihren Hang zum Bemuttern und ihre Manie, ständig etwas an dem Haus oder zumindest am Interieur ändern zu müssen, war das Leben aus dem Gebäude gewichen. Die übermächtigen Gefühle des Verlustes hatte er zwar hinter sich, ebenso die Trauerzeit – was auch immer genau sich hinter diesem abstrakten Begriff verbergen mochte. Diehl hatte gelernt, mit dem Leben ohne Helga zurechtzukommen. Er schmiss den Haushalt mithilfe einer Putzfrau, die zweimal die Woche bei ihm kehrte und auch seine Hemden bügelte. Die Küche hatte er mehr oder weniger stillgelegt und seine Ernährung den Gastronomen der Umgebung anvertraut. Die wenige Freizeit, die er sich gönnte, wurde vom Fernsehprogramm gefüllt, wobei er sich am besten bei Quizsendungen entspannen konnte. Er hatte seinen Alltag also im Griff. Doch – Helga fehlte ihm jeden Tag, jede Stunde, jede Minute.
Lange Zeit hatte er keine andere Frau angeschaut. Er interessierte sich schlichtweg nicht für sie, und die Frauen wohl auch nicht für ihn: für Diehl, den Bullen. Den alternden, dicklichen Brummbären. Das Thema Frauen war für ihn passé gewesen, abgehakt, erledigt. Bis ihm Gabriele über den Weg gelaufen war. Eine eigenwillige, faszinierende Frau.
Seine Gesichtszüge entspannten sich, und ein seltsamer Glanz trat in seine dunklen Augen, während er an sie dachte. Ja, diese Antiquitätenhändlerin hatte es ihm angetan. Ihm war vollkommen klar, dass sie eine Frau mit den sprichwörtlichen Haaren auf den Zähnen war. Und über ihre obskuren Geschäfte mochte er als Polizist gar nicht zu genau nachdenken. Außerdem musste man sich um diese dickköpfige Person ständig Sorgen machen, denn sie schien die Gefahr geradezu magisch anzuziehen. Obwohl – vielleicht war es gerade die Unruhe, die sie in sein Leben gebracht hatte, die er so lange entbehrt hatte. Vielleicht war Gabriele Doberstein die Frau, die in die Lücke stieß, die seine Helga hinterlassen hatte. Jedenfalls ließ es sich nicht abstreiten, dass sie ihn beschäftigte und emotional anrührte. Selten hatte er sich in den letzten fünf Jahren so viele Gedanken über einen anderen Menschen gemacht wie über Gabriele.
Wie auch jetzt: Diehl saß im halbdunklen Esszimmer seines Hauses, vor ihm ein gut eingeschenktes Glas Rotwein, für das es eigentlich zu vorzeitig war an diesem frühen Abend. Er sann darüber nach, wie er es fertigbringen könnte, Gabriele künftig öfters zu sehen. Sollte er ihr seine Gefühle offenbaren? Oh nein, entschied er sich spontan gegen diesen Einfall. Sie würde ihn als alten Lüstling in die Wüste schicken! Noch dazu würde sie ihn nicht länger in seiner Rolle als beratend mahnender Bulle in ihrer Nähe dulden. Er musste wohl einen Umweg wählen, einen sehr weiten. Musste sie immer mal wieder ausführen und einladen, mit ihr essen gehen, und vielleicht eines Tages nach ihrer Hand fassen. Wie in lange, lange vergangenen Zeiten, mit der behutsamen Vorsicht eines Teenagers beim ersten Date.
Diehl griff zum Glas und leerte den Rotwein. Sogleich schenkte er sich nach. Er würde also sehr langsam vorgehen, um nichts zu verderben. Aber Langsamkeit bedeutete nicht Stillstand. Bald würde er den nächsten Schritt wagen müssen, um nicht den Eindruck des Desinteressierten zu erwecken. Ein weiterer Besuch in offizieller Mission kam – zumindest vorerst – zwar nicht infrage. Aber gegen die Einladung auf einen gemeinsamen Drink war nichts einzuwenden! Ein Cocktail, vielleicht, in der beliebten Kontiki-Bar in den ehemaligen Fischerhäusern am Pegnitzufer? Sollte er sie anrufen und dazu einladen? Er war sich nicht sicher, denn keinesfalls wollte er sich dieser Frau aufdrängen.
In hellem Entsetzen wollten die beiden Frauen aus dem Kuhstall stürzen. Nur weg von hier!, dachten beide. Weg von diesem fürchterlichen Ort! Spencer war tot – womöglich wären sie die Nächsten!
Es blieb nicht die Zeit für nüchterne Überlegungen: Ob sie etwa die Polizei verständigen sollten oder wohl vielmehr die Militärpolizei? Oder ob sie besser alles verdrängen und für sich behalten sollten? Ob sie hoffen sollten, dass die Spuren, die sie in dem Stall und rundherum hinterlassen hatten, nicht bis zu ihnen zurückzuverfolgen waren? Und dass niemand ihren Wagen auf dem Feldweg gesehen und das Nummernschild notiert hatte? All diese Gedanken schwirrten nur bruchstückhaft durch ihre Köpfe. Denn wichtig war in diesem Moment nur die eine zentrale Frage: Würden sie unbehelligt diesen Ort
Weitere Kostenlose Bücher