Todesfrauen
Weise war auch Gabriele bereit, sich ihrem Schicksal zu ergeben. Der Knall des Gewehrs würde sie aus der unerträglichen Situation erlösen, in der sich befand. Sie war kaum noch bei Verstand, spürte ihren Körper nicht mehr, fing an zu halluzinieren. Wann schossen sie endlich? Wann machten sie dem Grauen ein Ende?
Sina war aufs Höchste angespannt. Doch der Schuss ließ auf sich warten. Sie zuckte zusammen, als sie eine Hand an ihrem linken Arm spürte. Mit einem kräftigen Ruck wurde der Ärmel ihrer Jacke zurückgeschoben. Fast im gleichen Moment fühlte sie einen schmerzhaften Einstich. Gleich darauf schwanden auch ihre letzten Lebensgeister.
»Das hat man nun von seiner Gutmütigkeit!«, wetterte Friedhelm, nachdem er den Hörer wütend aufgelegt hatte. Er ärgerte sich maßlos über seine Schwester und deren Unzuverlässigkeit. Warum, zum Kuckuck, kamen die blöden Weiber nicht endlich zurück?
Er konnte sich wahrlich Schöneres vorstellen, als hier in Gabrieles ungemütlicher Wohnung zu sitzen und Däumchen zu drehen. Nicht mal vernünftig fernsehen konnte er, um die Zeit totzuschlagen, denn Gabriele hatte keinen Kabelanschluss und auch keine Schüssel auf dem Dach, sodass nur die langweiligen öffentlich-rechtlichen Sender zu empfangen waren. Wenn sie nicht bald auftauchten, würde er es nicht rechtzeitig nach Hause schaffen, um eine Wiederholung von Tutti Frutti zu gucken.
Mit wachsendem Gram sah Friedhelm auf seine Armbanduhr. Schon bald 22 Uhr! Denen würde er was erzählen! Wahrscheinlich waren Gabi und Sina nach ihrem Geschäftsabschluss einen trinken gegangen, um den erfolgreichen Deal zünftig zu begießen. Ihn hatten sie dabei bestimmt vergessen. Unverschämt – aber typisch für das selbstgerechte Verhalten seiner Schwester.
Für einen ganz kurzen Moment kam Friedhelm der eigentliche Grund seiner Aufgabe in den Sinn: nämlich nach dem Rechten zu sehen und notfalls Alarm zu schlagen, falls die beiden Frauen sich nicht zurückmelden sollten. Aber seine Wut über das vermeintlich unfaire Benehmen von Gabi dominierte seine Gedanken. Einzig und allein die Standpauke, die er ihr gleich halten würde, spielte für ihn jetzt eine Rolle. Er legte sich die Worte zurecht, mit denen er die Frauen zurechtweisen würde. Und er nahm sich vor, sich nie wieder von seiner Schwester vor den Karren spannen zu lassen.
Als Gabriele und Sina kurz vor Mitternacht immer noch nicht zurück waren, wich Friedhelms Wut der Müdigkeit. Während eine alte Magnum-Folge über den Bildschirm flimmerte, fielen ihm die Augen zu.
13
In den Bombennächten des Zweiten Weltkriegs traf es die Nürnberger Südstadt besonders hart. Nahezu 90 Prozent der Gebäude und Infrastruktur wurden zerstört. Industrieanlagen versanken in Schutt und Asche, ebenso ganze Wohnquartiere und stolze bürgerliche Refugien wie die Quartiere rund um den Maffei- oder den Dianaplatz. Der Wiederaufbau stand unter dem Sparzwang der 50er- und frühen 60er-Jahre. In dieser Zeit wuchs auch der Wohnblock in die Höhe, in dem Vladi in einem beengten Einzimmerstudio hauste.
Das Mietshaus fußte auf zwei Betonklötzen, in der Mitte unterbrochen durch eine schmale Passage. Unten fanden kleine Geschäfte Platz: ein Zeitungskiosk, ein türkischer Obst- und Gemüsehändler sowie ein Frisiersalon. Darüber schichteten sich über fünf Etagen die Wohnungen, die sich durch dünne und somit hellhörige Wände, rauschende Wasserleitungen und undichte Fenster auszeichneten.
Vladi hatte versucht, mit gewagten Wandfarben, originellen Möbeln und einer permanenten Beschallung durch seine Hi-Fi-Anlage das Beste daraus zu machen. Doch auf die Dauer konnte das keine Lösung sein, weshalb er sich auf seine neue Bleibe in der Lorenzer Altstadt freute. Dank der großzügigen Belohnung von Spencer für seine Vermittlungsdienste konnte er sich den Umzug und die ersten beiden Mietzahlungen spielend leisten. Alles Weitere würde sich von selbst ergeben, denn er hoffte künftig auf weitere leichte Aufträge dieser Art. Eigentlich wäre damit alles gut, wenn sich nicht immer wieder das schlechte Gewissen bei ihm melden würde. Außerdem trieb ihn ein weiterer Gedanke um: Spencers Art gefiel ihm nicht. Für Vladis Geschmack kehrte Spencer sein amerikanisches Naturell viel zu sehr heraus. Vladi mochte die Amerikaner nicht besonders. Sie waren und blieben im Grunde nichts anderes als schießwütige Revolverhelden, die meinten, dem Rest der Welt ihre Ideologie aufdrücken zu
Weitere Kostenlose Bücher