Todesgott
gefühlt. Die Frau hat angefangen zu weinen und gesagt, wenn Sólrún wegen dieses Jungen nicht ins Nordland gezogen wäre, dann wäre sie jetzt noch am Leben.«
»Wegen dieses Jungen?«
»Ja.«
»Wen hat sie gemeint? Skarphéðinn oder Rúnar?«
Sie überlegt einen Moment. »Sie hat hundertprozentig Skarphéðinn gemeint. Sie hat angefangen, von irgendeinem Film zu erzählen, in dem sie beide mitgespielt hätten, also Sólrún und der besagte ›Junge‹. Danach hätte sich ihre Tochter so verändert.«
»Hat sie das näher erläutert?«
»Nein. Und ich konnte sie nicht danach fragen. Es ging einfach nicht. Ich hatte schon totale Gewissensbisse.«
»Du musst deswegen kein schlechtes Gewissen haben. Ganz im Gegenteil – wahrscheinlich hast du dazu beigetragen, dass die Wahrheit über den Tod der jungen Leute ans Licht kommt.«
»Das hoffe ich«, seufzt Ásbjörg.
»Hast du keine Lust, Journalistin zu werden, wenn du groß bist? Größer, meine ich.«
Sie lacht leise. »Tja, ich hab vor kurzem festgestellt, dass mir das in den Genen liegen könnte.«
Ich spiele kein Lotto. So hätte ich auf die Frage des Tages geantwortet, offen und ehrlich, was zweifellos eine innenpolitische Krise hervorgerufen hätte. Aber wahrscheinlich stimmt der Werbeslogan: Wer nicht wagt, der nicht gewinnt. Meine Idee war, dass nur ein Verstorbener nicht verheimlichen würde, dass Skarphéðinn ein Handy hatte. Es würde ihm nichts mehr bringen. Aber was bringt einem das Verheimlichen?
Ich habe mich nach der Aufregung wieder beruhigt. Starre auf den Zettel mit der heißersehnten Nummer. Dann rauche ich eine Zigarette. Anschließend spritze ich Snælda im Waschbecken ab. Und mich selbst unter der Dusche. Diese kleinen erotischen Momente sind tatsächlich die Würze des Lebens.
Gegen Mitternacht sitze ich gedankenversunken im Schlafanzug auf dem Wohnzimmersofa. Ich überlege, ob ich ins Bett gehen und versuchen soll, nach der Lektüre einiger Seiten von
Loftur, der Magier
einzuschlafen oder …
Sind Glücksspiele nicht dazu da, um gespielt zu werden?
Anstatt die Frage zu beantworten, nehme ich mein Handy und wähle die Nummer auf dem Zettel.
Es klingelt.
Und klingelt.
Und klingelt lange.
Ich will gerade auflegen, als ein Klicken ertönt und eine Stimme sagt:
»Hallo?«
Die Stimme klingt überaus angespannt und verängstigt.
»Hallo?«, sagt die Stimme wieder.
»Rúnar«, sage ich. »Hier ist Einar.«
»Ja«, entgegnet er fast flüsternd. »Ich hab die Nummer gesehen und wusste, dass du es bist. Deshalb bin ich rangegangen.«
»Ist was passiert? Wo bist du?«
»In der Wohnung.«
»Bei Skarphéðinn?«
»Ja.«
»An dem Handy, das ihm nicht gehört hat?«, sage ich sarkastisch.
Stille.
»Rúnar?«
Die Stille wird von einem merkwürdigen Summen unterbrochen.
»Rúnar!«
Es summt, von kurzen Pausen unterbrochen, weiter.
Mir wird klar, dass das Summen von der Türklingel stammt.
»Rúnar! Was ist los?«
»Ich muss hier raus … Sie sind …«
»Hallo! Rúnar!«
Die Verbindung wird abgebrochen.
Ich rufe wieder an.
Und wieder.
Und noch einmal.
Dann ändere ich das Spiel. Wähle wieder und wieder Rúnars eigene Nummer. Ohne Erfolg.
Der gewünschte Gesprächspartner ist zur Zeit nicht erreichbar.
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25
Dienstag/Mittwoch
E s gibt drei Möglichkeiten. Das Handy ist ausgeschaltet. Es hat keinen Empfang. Die Leitungen sind überlastet.
Aber das sind keine Antworten.
Warum sollte das Handy ausgeschaltet sein?
Warum sollte es urplötzlich keinen Empfang mehr haben?
Und warum sollten mitten in der Nacht die Leitungen überlastet sein?
Was ist das eigentlich für ein Service?
Nachdem mir diese Fragen eine ganze Weile ergebnislos durch den Kopf gegangen sind, höre ich auf, mit diesem Quatsch die Zeit totzuschlagen. Ich bin hin und her gelaufen, habe geraucht und in fünfminütigen Abständen angerufen. Aber jetzt muss ich etwas Sinnvolles tun. Eine Entscheidung fällen.
Es gibt, wie bei dem Handy, drei Möglichkeiten: die Polizei anrufen. Rúnars Eltern anrufen. Selbst zu ihm fahren.
Wähle Taste eins für die Polizei, Taste zwei für die Eltern oder Taste drei für Ärger.
Nach Art des Hauses nehme ich die Drei. Ich kontrolliere zweimal die Fenster. Sie sind alle geschlossen. Ich schalte in allen Zimmern das Licht an. Schließlich sehe ich nach, ob Snælda auch wirklich fest schläft. Das tut sie.
Als ich den Wagen anlasse, denke ich wieder einmal, wie schön es doch wäre, ein nichtsahnender
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