Todesgott
zart … Ragna, ich möchte ihn zu dir schicken … Nein, nein … nicht für so was … Lass ihn bloß in Ruhe … Ich möchte nur, dass du ihm ein paar Fragen beantwortest … wegen meiner Dísabjörk … und dieser verdammten Unglücksfahrt … Lass dich nicht verunsichern. Er ist ein bisschen einfältig, aber er meint es gut … Danke, Liebes … Nein, mach dir um Himmels willen keine Umstände. Er hat mir eine Schachtel Pralinen mitgebracht … Nein, diese Burschen werden viel zu sehr verwöhnt … Ich sage ihm, er soll dir Pralinen mitbringen. Sonst sprichst du nicht mit ihm … Ja, hier ist ganz schön was los … Er ist schon unterwegs …«
Ja, ich bin unterwegs. Ständig unterwegs. Nachdem ich einem renommierten Süßwarengeschäft zum zweiten Mal an diesem Tag einen Besuch abgestattet habe, ist mein nächstes Ziel ein kleines, einstöckiges Steinhaus mit abgeblätterter Farbe und einem niedrigen, rotgestrichenen Dach, nicht weit vom Gelände des Gymnasiums entfernt.
Ragna Ármannsdóttir ist entgegen meinen Erwartungen wesentlich jünger als Gunnhildur – etwa sechzig, glattes, kurzes, rabenschwarzes Haar, eindeutig gefärbt, in einem grünen, geblümten Kleid mit blaugestreifter Schürze. Sie ist mittelgroß und mittelschlank und hat ein kleines Doppelkinn in ihrem runden, freundlichen Gesicht. Sie ist frisch geschminkt, und aus der Küche dringt Pfannkuchenduft. Feierlich überreiche ich ihr die Pralinenschachtel.
Kurz darauf sitzen Ragna und ich bei Kaffee und Pfannkuchen an einem alten, lackierten Wohnzimmertisch. Sie raucht dünne Capri-Zigaretten und beobachtet mich beim Pfannkuchenverschlingen.
Dabei erzählt sie mir, wie sehr ihr die alte Gunnhildur ans Herz gewachsen sei.
»Ich habe als Aushilfe bei Nammi angefangen, als der alte Guðmundur, Gott hab ihn selig, noch lebte, und Gunnhildur und er haben mich wie ein Familienmitglied behandelt. Seitdem arbeite ich dort, erst in den Sommerferien, und später, als ich dann die Höhere Handelsschule hinter mir hatte, in Vollzeit. Ich bin eine Art Büroleiterin.«
»Und wie ist es, unter Ásgeirs Leitung zu arbeiten?«
»Ich möchte nichts Schlechtes über Geiri sagen. Er ist bei Nammi in einen traditionellen Familienbetrieb gekommen, der im Grunde wie ein Haushalt geführt wurde. Ásgeir wollte einen modernen Führungsstil, Marketing und so weiter. Es sind gigantische Summen für alle möglichen Analysen und Unternehmensberatungen und Werbekampagnen und Strategien ausgegeben worden, ohne dass sich der Umsatz der Firma verbessert hätte. Das ist das Einzige, was du von mir über Geiri hören wirst. Er hatte große Pläne, aber nur mäßigen Erfolg.«
»Gunnhildur hält ja nicht besonders große Stücke auf ihn.«
»Als Guðmundur starb, wünschte sich Gunnhildur, dass Dísabjörk die Firma übernähme, aber die wollte nicht. Stattdessen brachte sie ihren Mann ins Spiel, er sei betriebswirtschaftlich versiert und hochqualifiziert, was ja auch stimmt. Gunnhildur gab nach, konnte Geiri aber später nie so recht verzeihen, wie es mit der Firma gelaufen war. Natürlich ist es nicht ganz fair, ihm allein die Schuld daran zu geben. Im Süßwarenbereich herrscht in Island schon seit Jahren starke Konkurrenz, sowohl zwischen den isländischen als auch mit ausländischen Produzenten, die viel mehr Ressourcen und Kapital im Hintergrund haben. Traditionelle Marken und Produkte sind nicht mehr gefragt und werden blitzschnell von neuen verdrängt. So ist das nun mal.«
»Erzähl mir ein bisschen von diesem sogenannten Adventuretrip.«
»Wir machen schon seit drei Jahren solche Trips als Betriebsausflug. Ich finde das vollkommen albern. Aber anscheinend ist das modern und ein Zeichen für fortschrittliches Denken im Betriebs- und Personalmanagement. Personalmanagement – wie das schon klingt! Was soll das eigentlich sein? Kann man die Leute nicht einfach wie Menschen behandeln? Wir haben schon Gletschertouren, Gletscherspiele, Motorschlitten- und Hundeschlittenfahrten, Schneespiele, Mountainbike- und Kajaktouren gemacht. Und jetzt diese Wildwasserfahrt, die so tragisch endete. Ich finde das merkwürdig: Das Ziel ist es, die Firmenmoral zu verbessern, die Mitarbeiter zusammenzuschweißen, Solidarität und Einsatzbereitschaft zu stärken, aber der Weg, den man dabei einschlägt, ist prädestiniert für Konkurrenz und Konflikte. Beim diesjährigen Trip sollten wir auf einen vier Meter hohen Felsen klettern und in den Abgrund springen.
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