Todeshunger
eine
Bemerkung darüber. Vermutlich ist es nur eine Frage der Prioritäten. Wenn die Kämpfe vorüber sind, normalisiert sich auch das bestimmt wieder.
Ich sehe zum Stadtzentrum in der Ferne, das wie die Glut eines niedergebrannten Feuers leuchtet. Heute Nacht geht eine merkwürdige Schönheit von den Verwüstungen aus. Früher ist mir die Umgebung immer hässlich und bedrückend vorgekommen, aber nun erkenne ich Wunderbares und Detailliertes an Dingen, durch die ich früher einfach hindurchgesehen habe. Der Hass hat mir die Augen geöffnet. Das Gebiet unmittelbar um diesen Wohnblock herum – meine einstige Heimat – ist dunkel und weitgehend ruhig, nur vereinzelte Feuer und hin und wieder die Andeutung einer huschenden Bewegung im abendlichen Dunkel. Von hier oben sieht die Welt weit und endlos aus. Wolken ziehen am Horizont auf und verschlucken die Sterne. Es wird regnen.
»Woran denkst du?«, fragt Paul, als ein paar Minuten verstrichen sind. »Hoffentlich nicht immer noch an meinen Schwanz!«
»Nur daran, wie enorm mir die Welt heute Nacht vorkommt«, antworte ich aufrichtig und beobachte, wie ein einsamer Helikopter einen fernen Konvoi von Fahrzeugen der Unveränderten durch ihr so genanntes Sperrgebiet eskortiert. »Ich bin zum ersten Mal seit Monaten wieder hier. Von hier oben sehe ich, wo ich gewohnt und gearbeitet habe, und alles dazwischen. Kaum zu glauben, dass ich praktisch mein gesamtes Leben auf diesen wenigen Quadratkilometern verbracht habe. Da fühlt man sich irgendwie unbedeutend, was?«
»Das Beste an unserem neuen Leben«, verrät er mir, »sind doch die vielen Möglichkeiten, die es uns eröffnet
hat. Alle Mauern und Barrieren, die uns behindert haben, sind weg.«
»Ich habe an meine Wohnung gedacht. Sie war nur ein klein wenig größer als die hier, und da haben wir zu fünft gelebt. Zu fünft! Wie konnten wir nur so viele Leben auf so engem Raum zusammenpferchen?«
»Das war nicht leben, das war nur existieren.«
»Das weiß ich jetzt auch, aber wenn man mittendrin steckt, macht man den Trott einfach mit, richtig? Man versucht, das Beste aus dem zu machen, was man hat …«
Paul berührt mich an der Schulter, und ich sehe ihn an. Er macht eine Geste, die die ganze Stadt einschließt.
»Das alles, Kumpel«, sagt er, »gehört jetzt uns.«
II
I n einer Situation, in der jeder entweder auf der einen oder der anderen Seite stand, ohne eine Grauzone dazwischen, genoss höchste Priorität, schnellstens herauszufinden, wer wer war. Schon frühzeitig hatte man einen »Zugehörigkeitstest« auf DNS-Basis entwickelt, der wiederum die Grundlage für das Zentralregister bildete. Dabei handelte es sich um wenig mehr als eine elektronische Liste – eine enorme Auflistung von Namen, die aus dem Wählerverzeichnis sowie den Geburts- und Sterberegistern stammten. Einzelheiten zu den erfassten Personen waren spärlich: Name, Geschlecht, Geburtsdatum, letzte bekannte Adresse, verstorben oder nicht und, am wichtigsten, Hasser oder Unveränderter.
Viele Aufzeichnungen – keiner wusste genau, wie viele – waren unvollständig oder ungenau. Aktuelle Informationen ließen sich immer schwerer finden. Man sammelte Daten in Vernichtungslagern, Evakuierungslagern, provisorischen Leichenhallen, militärischen Kontrollpunkten und generell überall, wo man es mit einem kontrollierten Zustrom von Zivilisten zu tun hatte. Doch nach den ersten zwei Monaten der Krise wurde der Datenstrom zu einem Rinnsal, dann zu einem Tröpfeln. Tausende Tote, die verwesend in ihren Häusern, auf unkontrolliert wuchernden Feldern oder an Straßenecken lagen, konnten nicht erfasst werden, ihre Akten blieben leer, wenn jemand nach ihren Namen fragte.
Die Qualität der Daten war nicht das einzige Problem
des Systems. Verwaltung, Sicherung, Integrität, Zugriffsrechte, Sicherheit … das Tempo und der chaotische Charakter der Veränderung bedeuteten, dass dies alles, wie so viele Aspekte der Entwicklung, vernachlässigt, halbherzig unternommen, übersprungen oder schlicht und einfach gar nicht berücksichtigt wurde. Doch die immer weniger werdenden Leute, die das System noch benutzten, gaben sich allergrößte Mühe, da sie der festen Überzeugung waren, ihre Arbeit würde sich am Ende doch auszahlen.
Seit fast sechsunddreißig Stunden befand sich Mark bereits wieder in der Stadt. Am Nachmittag war es ihm gelungen, ein paar Stunden auf der Pritsche eines leeren Lebensmittellastwagens zu schlafen, doch er war immer noch
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