Todeshunger
Wahrnehmung der Welt, oder was von ihr übrig ist, haben. Sie interessieren sich, wie alle Kinder, nur für sich selbst. Ich weiß, sie würden jeden Unveränderten töten, der dumm genug ist, sich in ihre Nähe zu wagen, aber verspüren sie den gleichen Zwang, nach draußen zu gehen und sie zu jagen, so wie wir? Was könnten sie sich mehr wünschen als eine warme Zuflucht und einen ausreichenden Vorrat an Nahrungsmitteln? Sie haben sich hier eingenistet.
»Ich gehe mich in dem Gebäude umsehen«, sage ich zu Paul, da ich es kaum erwarten kann, nach Ellis zu suchen. Ich verlasse das Klassenzimmer, arbeite mich zum Haupteingang vor und sehe auf dem Weg dorthin in die anderen Klassenräume. Sie sind alle leer.
»Sonst ist niemand hier«, höre ich jemanden mit leiser Stimme sagen, als ich die oberste Treppenstufe erreiche. Ich wirble hastig herum, kann jedoch niemanden sehen. Ein kleines Mädchen tritt zaghaft aus den Schatten und blickt mich mit großen Augen an. Ich versuche, ihr Alter zu schätzen, doch es fällt mir schwer. Sie macht einen vollkommen unschuldigen, gleichzeitig jedoch aufgekratzten und wissenden Eindruck. Sie bietet einen jämmerlichen Anblick; zum Erbarmen abgemagert, blasse, fast weiße Haut, schmutzig und mit langen, verfilzten Haaren. Sie trägt einen Pyjama und hat bloße, schlammverkrustete
Füße. Ihre Kleidung weist Blutflecken auf, daher möchte ich sie instinktiv fragen, ob sie sich verletzt hat. Doch dann wird mir klar, dass das Blut höchstwahrscheinlich von jemand anderem stammt, den sie vermutlich getötet hat. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Wir stehen beide verlegen da und betrachten einander schweigend, bis mir etwas unmittelbar über ihrer Schulter ins Auge fällt. Es ist eine Reihe von Kleiderhaken aus Metall an einem langen Holzbrett, etwa anderthalb Meter über dem Boden. Der Name unter dem Haken direkt hinter ihr lautet Edward McCoyne. Plötzlich wird das Mädchen unsichtbar für mich, ich setze mich in Bewegung und nehme den kleinen Stoffsack vom Kleiderhaken meines Sohnes.
»Das ist nur altes Zeug«, sagt sie. »Meine Tasche ist da unten. Willst du sie sehen?«
»Nein, schon gut …«
Ich öffne den Beutel und hole Edwards Footballtrikot heraus. Sein Name steht in Lizzies Handschrift mit Kugelschreiber auf dem Etikett im Krageninneren. Ich weiß noch genau, wie wir es ihm gekauft haben. Gott, er hat Monate herumgequengelt, bis er es bekommen hat, weil alle anderen Kinder auch eins trugen. Zwei Wochen später hat das Team die Trikots gewechselt, da hat der kleine Scheißkerl es nicht mehr angezogen und sich obendrein auch noch beklagt, dass er nicht mehr das richtige Trikot hätte und … und was zum Teufel mache ich hier? Ich darf nicht so denken und muss mich zusammenreißen. Dieses Leben existiert nicht mehr.
Das Mädchen streicht an mir vorbei und lehnt sich an die Tür der Aula.
»Was ist da drin?«, frage ich und bin froh um die Ablenkung.
»Noch mehr Zeug«, antwortet sie lässig und zuckt die Achseln. Sie stößt die Tür auf, ich folge ihr hinein. Augenblicklich bleibe ich wie angewurzelt stehen. Der gesamte Boden des riesigen, rechteckigen Schulsaals ist mit Leichen bedeckt. Manche sind aufeinandergestapelt, fast so, als würden sie hier gelagert. Es sind blutige Handabdrücke an den Wänden, manche davon eindeutig zu groß, als dass sie von den Kindern stammen könnten. Das Mädchen trippelt vollkommen gleichgültig durch das Schlachthaus und verschwindet durch ein klaffendes Loch in der Außenwand, wo einst ein Notausgang gewesen ist. Ich folge ihr in einiger Entfernung, steige über zerstückelte Kadaver und verscheuche summende Fliegen. Der halbnackte Leichnam einer Unveränderten zu meinen Füßen, die erst wenige Tage tot sein kann, lenkt mich ab. Sie liegt mit dem Gesicht nach unten und ausgestreckten Armen da und hat die Finger in den Boden gekrallt, als wäre sie auf der Flucht gestorben. In ihren nackten Schenkeln fehlen ganze Stücke. Sind das Bisswunden?
Der allgegenwärtige Gestank hier drin ist unerträglich; ich muss würgen. Ich folge dem Mädchen ins Freie, da ich unbedingt an die frische Luft will. Ich finde sie am Rand eines trüben Teichs voller Unkraut. Ich habe keine Ahnung, ob es sich um einen absichtlich gegrabenen Tümpel oder den Krater einer Explosion oder eines anderen Einschlags handelt. Wie auch immer, sie liegt auf dem Bauch im Schlamm und leckt durstig das schmutzige grüne Wasser auf.
Es ist eine mühsame
Weitere Kostenlose Bücher