Todeshunger
kommt. Jedenfalls noch nicht.
»Heute Morgen möchte ich«, fährt er mit leiser, nervtötend gelassener Stimme fort, »dass Sie nur still liegen bleiben und mir zuhören. Ich möchte Ihnen meine Geschichte erzählen. Sie werden nichts erfahren, was Sie nicht schon hundert Mal gehört haben. Na ja, vielleicht
haben Sie so eine Geschichte noch nicht gehört, aber sicher eine Menge ähnliche. Verdammt, ich bin sicher, Sie haben Schlimmeres getan als das, was ich Ihnen gleich erzähle. Sehen Sie, Danny, Sie und Ihresgleichen haben ein Loch in mein Leben gerissen. Ihretwegen habe ich alles verloren. Sie haben meine Welt vernichtet …«
Was zum Teufel erwartet er von mir? Mitleid? Eine Entschuldigung? Ich fühle mich gut mit dem Wissen, dass er unseretwegen leiden musste, und will mehr hören. Ich möchte jede Einzelheit erfahren. Ich muss genau wissen, wie wir ihm wehgetan und was wir angerichtet haben.
»Stellen Sie sich folgende Szene vor, Danny«, beginnt er mit einer fast zu ruhigen Stimme. »Es ist Freitagabend, ich bin gerade von der Arbeit nach Hause gekommen. Ich will Sie nicht mit Einzelheiten darüber langweilen, wo ich gelebt und womit ich meinen Lebensunterhalt verdient habe, bevor das alles geschehen ist, denn offen gestanden war das ziemlich langweilig. Aber es war mein Leben, meine Routine, und ich war glücklich damit. Und Sie und Ihresgleichen haben mir alles genommen.«
Er bleibt gefasst, aber unter seiner Oberfläche tobt ein Gefühlssturm. Ob er daran zerbricht? Ich will den Schmerz dieses Dreckskerls sehen, will ihn leiden sehen. Er verstummt, schließt die Augen, holt tief Luft und fährt fort.
»Ich nehme an, das war ziemlich am Anfang. Erinnern Sie sich noch an die Zeit, als wir dachten, es gäbe gar kein Problem und die Straßen wären nur voll von Nachahmungstätern, die einander bekämpften, weil auch andere es gemacht haben? Ehe wir wussten, dass Menschen wie Sie sich tatsächlich veränderten? Damals, bevor wir zu große Angst hatten, einander auch nur anzusehen? Erinnern Sie sich?«
Er blickt automatisch zu mir, da er eine Antwort erwartet, bekommt aber keine.
»Jedenfalls war es, wie schon gesagt, an einem Freitagabend. Wir hatten gerade gegessen, ich sah mir die Nachrichten im Fernsehen an und hörte, wie schlimm es langsam wurde. Meine Frau war in der Küche und stritt mit Keisha, unserer siebzehnjährigen Tochter, über das Ausgehen. Sie kam mit diesen ganzen altbekannten Sprüchen einer beschützenden Mutter daher. Sagte ihr, dass sie es generell nicht gern sah, wenn sie am Wochenende in die Stadt ging, aber in diesen unsicheren Zeiten schon gar nicht … Sie wissen, was ich meine. Ich sitze also mit hochgelegten Füßen da und versuche, das Gezänk zu überhören und mich auf den Fernseher zu konzentrieren, aber in der Küche wird es immer lauter. Keisha brüllt Jess an, Jess brüllt Keisha an, und ich wende den Blick nicht vom Bildschirm ab und wünsche mir, dass sie beide den Mund halten …«
Er verstummt wieder, und in der plötzlichen Stille denke ich an die vielen Streite mit den Kindern über das Fernsehen, die in meinem früheren Leben so sehr an meinen Nerven gezerrt haben. Hastig besinne ich mich. Identifiziere ich mich etwa mit diesem Wichser? Vielleicht will er das ja. Vermutlich ist das alles auch nichts als wohl kalkulierter Blödsinn, der mich für ihn einnehmen soll.
»Das Gebrüll wird immer lauter«, sagt er, »und ich höre, wie die Hintertür aufgerissen und dann zugeschlagen wird. Ich denke, das war es, Keisha ist einfach gegangen, doch dann wird mir klar, dass ich sie immer noch beide hören kann. Dann höre ich einen lauten Krach, eine fängt an zu schreien, dann ein Poltern und noch ein Krachen. Und auf einmal verstummt das Geschrei.«
Er sieht mich direkt an. Tränen laufen ihm über die Wangen. Er wischt sie mit dem Ärmel ab.
»Ich stehe auf und gehe in die Küche, und da steht dieser Kerl mit dem Rücken zu mir mitten im Raum, beide Frauen zu seinen Füßen. Ich weiß in dem Moment, als ich sie sehe, dass sie tot sind. Er hat einen Baseballschläger in der Hand, von dessen Ende Blut tropft. Von Keisha sehe ich nur die Beine, aber Jess liegt bloß einen Meter von mir entfernt auf dem Rücken, und ihr Gesicht … mein Gott, es ist nichts mehr davon übrig, ihr ganzer Schädel wurde zertrümmert. Nur ein dunkles, blutiges Loch, wo das wunderschöne Gesicht gewesen ist …
Unser Haus war eine kleine, bescheidene Unterkunft … schmal, mitten in
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