Todesinstinkt
da?«
Mehrere Hundert Menschen saßen oder lagen mit rußigen Gesichtern oder blutenden Gliedmaßen in den Kirchenbänken und warteten auf einen Krankenwagen oder medizinische Versorgung.
»Das dauert doch nur eine Minute«, sagte Colette.
Es dauerte fünf.
»So.« Sie ließ den Terrier los. »Fertig.«
A m Nachmittag saß Littlemore an einem langen Tisch im Zentrum des Platzes und nahm in der immer noch staubund rauchgeschwängerten Luft die Aussagen von Augenzeugen auf. Zwei uniformierte Beamte – Stankiewicz und Roederheusen — unterbrachen ihn. »Hey, Cap«, rief Ersterer, »die lassen uns nicht ins Schatzamt.«
Littlemore hatte seine Untergebenen angewiesen, in den umliegenden Häusern nach Menschen zu suchen, die tot waren oder zu schwer verletzt, um selbstständig herauszukommen. »Wer lässt euch nicht rein?«
»Die Army, Sir.« Roederheusen deutete auf die Treasury, auf deren Treppe sich rund zweihundert bewaffnete US-Infanteristen postiert hatten. Aus dem Süden rückte soeben mit aufgepflanzten Bajonetten eine weitere Kompanie an, die in rhythmischem Schritt über die Wall Street marschierte.
Überrascht pfiff der Detective durch die Zähne. »Wo kommen die denn her?«
»Dürfen die uns rumkommandieren, Cap?« Stankiewicz schob den glänzenden Schirm seiner Mütze zurück und reckte das Kinn vor, um sein Missfallen auszudrücken.
»Stanky wurde in einen Kampf verwickelt, Sir«, bemerkte Roederheusen.
»Das war nicht meine Schuld«, protestierte Stankiewicz. »Ich hab dem Oberst erklärt, dass wir die Häuser durchsuchen müssen, und er sagt: ›Zurücktreten, Zivilist.‹ Da hab ich gesagt: ›Wie kommen Sie dazu, mich Zivilist zu
nennen, ich bin von der New Yorker Polizei‹, und er darauf: ›Ich habe gesagt, zurücktreten, Zivilist, sonst sorge ich dafür, dass Sie zurücktreten‹, und dann drückt mir so ein Soldat sein Bajonett an die Brust, also greife ich nach meiner Waffe ...«
»Nein«, unterbrach ihn Littlemore, »erzählen Sie mir bitte nicht, dass Sie sie auf einen Oberst der US Army angelegt haben.«
»Ich hab sie nicht rausgezogen, Cap. Ich hab ihnen die Kanone nur gezeigt – ein bisschen die Jacke zurückgeschoben, wie Sie es uns beigebracht haben. Aber auf einmal bin ich umzingelt — mindestens sechs Soldaten, und alle mit Bajonett.«
»Und was war dann?«
»Sie haben Stanky befohlen, dass er sich hinkiet und die Hände über den Kopf legt, Sir«, antwortete Roederheusen. »Und ihm die Pistole abgenommen.«
»Mensch, Stanky«, entfuhr es Littlemore. »Und was ist mit Ihnen, Lederhosen? Haben sie Ihnen auch die Waffe weggenommen?«
»Ich heiße Roederheusen, Sir.«
»Sie haben sie ihm auch abgeknöpft«, bekannte Stankiewicz.
»Dabei hab ich gar nichts gemacht«, beschwerte sich Roederheusen.
Littlemore schüttelte den Kopf. Dann reichte er ihnen einen Stoß leere Karteikarten. »Ich hole euch die Waffen später zurück. Inzwischen hab ich eine Aufgabe für euch. Wir brauchen eine Opferliste. Eine Karte pro Person. Name, Alter, Beruf, Adresse, alles, was ihr ...«
»Littlemore!« Eine energische Männerstimme hallte
über die Straße. »Kommen Sie bitte zu mir, Captain. Ich muss mit Ihnen sprechen.«
Die Stimme gehörte Commissioner Richard Enright, dem Chef der New Yorker Polizei. Littlemore trabte hinüber und gesellte sich zu einer Gruppe von vier älteren Herren auf dem Gehsteig.
»Captain Littlemore, Sie kennen natürlich unseren Bürgermeister. « Enright wandte sich zu John F. Hylan, dem Bürgermeister von New York City. Hylans strähnig-öliges Haar war in der Mitte gescheitelt; seine Augen verrieten erheblichen inneren Aufruhr, aber keine großen geistigen Fähigkeiten. Der Commissioner stellte Littlemore auch den anderen zwei Männern vor. »Das ist Mr. McAdoo, der Präsident Wilson in Washington berichten wird, und das ist Mr. Lamont von der J.P. Morgan Bank. Ist wirklich alles in Ordnung bei Ihnen, Lamont?«
»Das Fenster direkt vor uns ist zerplatzt.« Der Antwortende war ein kleiner, gut gekleideter Mann mit einem bösen Schnitt an einem Arm und einem bestürzten, verständnislosen Ausdruck im ansonsten nichtssagenden Gesicht. »Wir hätten sterben können. Wie konnte so was passieren?«
»Was ist denn überhaupt passiert?«, fragte der Bürgermeister Littlemore.
»Das wissen wir noch nicht, Sir«, erwiderte der Detective. »Wir arbeiten daran.«
»Und was machen wir jetzt mit dem Constitution Day?«, flüsterte Hylan besorgt.
»Morgen ist
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