Todesküste
gegen
Polizeibeamte ausgesprochen wurden. Meistens geschah dies durch Kriminelle, die
ihren Frust über die erfolgreiche Aufklärung und Ermittlung des Täters
abreagieren wollten. Das waren fast verständliche Reaktionen, die aber so gut
wie nie Konsequenzen hatten. In diesem Fall handelte es sich aber nicht um
einen überführten Täter, sondern jemand suchte gezielt Lüder dazu zu bewegen,
seine Ermittlungen einzustellen. Der Anrufer klang nicht so, als wäre er ein
Naivling, der glaubte, Lüder oder die Polizei einschüchtern zu können.
Bemerkenswert erschien zudem, dass der Unbekannte nicht nur wusste, dass Lüder
mit den Ermittlungen betraut war, sondern auch die Nummer seines privaten
Mobiltelefons kannte. Der Mann schien gut informiert zu sein. Ob er identisch
war mit dem anonymen Briefschreiber? Zumindest gab es neben dem ersten Hinweis
auf einen möglichen Namen des Husumer Mordopfers eine Reihe weiterer Anhaltspunkte.
Lüder wurde durch Friedjof unterbrochen, der mit einem
einzigen Pappdeckel unterm Arm ins Zimmer stürmte. Es war eine der im LKA gebräuchlichen Postumlaufmappen. Der
Bürobote hielt den Aktendeckel am ausgestreckten Arm weit von sich, kniff die
Augen zusammen und fragte mit schwerer Zunge: »Das ist für einen gewissen James
Bond. Kennst du den?«
Lüder zeigte auf den Aktenschrank in seinem Büro.
»Klar. Der hat sich vorhin mit einer russischen Agentin dorthin zurückgezogen
und möchte die nächsten drei Tage nicht gestört werden.« Lüder versuchte eine
Art Brunftschrei eines Hirsches während der Paarungszeit zu imitieren. »Hast du
das auch gehört, Friedhof?«
Der junge Mann ließ den Aktendeckel mit gekonntem
Schwung auf Lüders Schreibtischplatte segeln. »Da bringe ich dir die Lösung.«
Dann verschwand er eilig zur Tür hinaus, als Lüder begann, ihn mit Büroklammern
zu bewerfen.
In der Mappe fand Lüder eine Notiz der
Kriminaltechnik. Es war gelungen, weitere Telefonnummern zu ermitteln, die
Silvio Merseburger von seinem Handy aus angerufen hatte. Obwohl die Nummer im
Mobiltelefon nicht gespeichert war, stach ein Anschluss besonders hervor, den
Merseburger öfter angewählt hatte. Es war ein ausländischer Teilnehmer. Lüder
schlug nach, welches Land sich hinter der Vorwahl 0048 verbarg, und war
überrascht, als er »Polen« las. Vieles hätte er erwartet, aber nicht, dass ein
Rechtsradikaler seinen ominösen »Abschnittführer« beim östlichen Nachbarn
sitzen hatte.
Trotz der gemeinsamen Mitgliedschaft in der EU war das Verhältnis zu Polen noch
nicht so entspannt, dass man auf dem kurzen Dienstweg ein Hilfeersuchen starten
konnte. Im Unterschied dazu gab es zu den nördlichen Nachbarn viele
inoffizielle Kontakte, und man konnte sich über die grüne Grenze hinweg schnell
austauschen. Richtung Osten hingegen war der förmliche Dienstweg zu
beschreiten. Zudem wusste Lüder nicht, ob der »Abschnittführer« nicht schon
längst über die Verhaftung Merseburgers informiert war. Aber einen Versuch
sollte es wert sein.
Lüder nahm Merseburgers Handy und wählte die polnische
Telefonnummer. Es dauerte ewig, bis sich jemand meldete.
»Was ist, Merseburger? Gibt es irgendwelche Probleme,
weil du außerhalb der vereinbarten Zeit anrufst?«
Lüder stockte für einen Augenblick der Atem. Mit
vielem hatte er gerechnet. Aber diese Überraschung war grenzenlos.
»Hallo«, sagte er. »Nachdem Sie mich schon zwei Mal
angerufen hatten, wollte ich mich einmal melden. Da ich Sie jetzt kenne, können
wir aus den bisher einseitigen Telefonaten künftig einen echten Dialog machen.«
Ohne seinen Gesprächspartner sehen zu können, bemerkte
Lüder, wie den anderen ein gewaltiger Schreck durchfuhr. Es dauerte mehrere
Atemzüge lang, bis er antwortete.
»Offensichtlich habe ich Sie unterschätzt, Lüders.
Aber durch Ihre Dummheit haben Sie selbst den Stab über sich gebrochen.« Dann
legte er auf.
Lüder starrte nachdenklich auf die weiß getünchte Wand
in seinem Büro. Das war in der Tat eine erstaunliche Entdeckung, dass der
anonyme Anrufer und der ominöse »Abschnittführer« der »Germanischen Gilde« ein
und dieselbe Person waren.
Am Kopfende des länglichen Tisches saß Nathusius und
leitete die turnusmäßige Dienstbesprechung. Während sich in der sogenannten
freien Wirtschaft für Zusammenkünfte dieser Art der Begriff »Meeting«
durchgesetzt hatte, waren Behörden bei der deutschen Bezeichnung geblieben.
Neben der Erörterung allgemeiner Belange, die zum Alltag einer
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