Todesmarsch
und erst vier Leute ausgeschieden. Er spürte einen Stich in der Magengegend. Ich werde niemals alle überleben. Alle nicht. Aber andererseits - warum eigentlich nicht? Jemand muß ja der letzte sein.
Mit dem Tageslicht schlief auch die Unterhaltung ein. Die einsetzende Stille hatte etwas Bedrückendes. Die hereinbrechende Dunkelheit, der Nebel, der sich in den Bodensenken zusammenballte - auf einmal erschien ihm das alles als völlig real und gleichzeitig als völlig übernatürlich. Er sehnte sich nach Jan oder seiner Mutter oder überhaupt nach einer Frau, und fragte sich, was er, in Gottes Namen, hier zu suchen oder wieso er sich überhaupt auf diese Sache eingelassen hatte. Er konnte sich nicht einmal vormachen, daß er das alles nicht gewußt hätte. Er hatte genau gewußt, was hier auf ihn zukam. Aber er war ja nicht der einzige. Ganz offensichtlich waren hier noch fünfundneunzig weitere Idioten mit von der Partie.
Er harte wieder einen dicken Frosch im Hals, der ihm das Schlucken erschwerte. Vor ihm weinte jemand leise vor sich hin. Er hatte nicht bemerkt, wann das angefangen hatte, und es hatte ihn auch niemand darauf aufmerksam gemacht. Es war, als sei das Weinen schon immer dagewesen.
Noch zehn Meilen bis Caribou, aber dort würden wenigstens Straßenlichter sein. Der Gedanke munterte ihn ein bißchen auf. Im Grunde war doch alles gut. Er lebte, und es war völlig überflüssig, an die Zeit zu denken, in der er nicht mehr sein würde. McVries hatte schon recht, man mußte seine Erwartungen an die Situation anpassen.
Um drei Viertel sechs machte die Nachricht über einen Jungen namens Travin die Runde. Travin hatte zu der frühen Vorhut gehört und fiel jetzt langsam durch die Hauptgruppe zurück. Er hatte Durchfall. Garraty konnte das kaum glauben, als er es hörte, doch dann sah er Travin und mußte sich selbst davon überzeugen. Der Junge hielt sich im Gehen die offene Hose hoch, und erhielt jedesmal, wenn er sich hinhockte, eine Verwarnung. Garraty fragte sich bedrückt, warum er es nicht einfach an den Beinen herunterlaufen ließ. Immer noch besser, sich schmutzig zu machen als zu sterben.
Travin lief tief vornübergebeugt wie Stebbins vorhin mit seinem Marmeladenbrot, und wenn ihn ein Zittern überlief, wußte Garraty, daß er jetzt wieder von einem Magenkrampf gepeinigt wurde. Garraty fühlte sich davon abgestoßen. Es war weder faszinierend noch geheimnisvoll, sondern das war einfach nur ein Junge mit Bauchschmerzen, und er fand es unmöglich, dabei etwas anderes als Ekel und eine gewisse animalische Angst zu empfinden. Sein eigener Magen fing unangenehm zu grollen an.
Die Soldaten beobachteten Travin aufmerksam und abwartend. Schließlich fiel er fast hin, als er sich wieder in die Hocke setzen wollte, und die Soldaten erschossen ihn mit heruntergelassener Hose. Er rollte auf den Rücken, und sein zu einer erbärmlichen Grimasse verzogenes Gesicht starrte in den Himmel. Jemand übergab sich geräuschvoll und wurde verwarnt. Es hörte sich an, als ob er gleich den ganzen Magen ausspucken wollte.
»Der geht als nächster«, bemerkte Harkness lakonisch.
»Halt den Mund!« fuhr Garraty ihn mit erstickter Stimme an. »Kannst du nicht einmal dein Maul halten?«
Niemand sagte etwas. Harkness war verlegen und fing wieder an, seine Brille zu putzen. Der Junge, der sich übergeben hatte, wurde nicht erschossen.
Sie kamen an einer Gruppe von Teenagern vorbei, die auf einer Decke saßen und Coca-Cola tranken. Als sie Garraty entdeckten, sprangen sie auf und applaudierten heftig. Eins der Mädchen hatte sehr große Brüste. Sie wackelten ordentlich, während sie auf und abhüpfte, und ihr Freund konnte die Augen nicht davon lassen. Garraty fand, daß er langsam eine Sexmanie entwickelte.
»Seht euch bloß mal diese Titten an!« rief Pearson aufgeregt. »Mannomann!« Garraty hätte gern gewußt, ob sie noch Jungfrau und genauso unerfahren wie er selbst war.
Dann sahen sie einen ruhigen, beinahe runden Teich, über den dünne Nebelschwaden zogen. Er sah wie ein verzauberter Spiegel aus, und in den geheimnisvollen Schlingpflanzen, die an seinem Ufer wuchsen, quakte heiser ein Ochsenfrosch. Für Garraty war dies einer der schönsten Augenblicke, den er je genossen hatte.
»Das ist ein verdammt großer Staat«, rief Barkovitch plötzlich von vorn.
»Dieses Ekel geht mir langsam auf den Geist«, erklärte McVries feierlich. »Im Augenblick habe ich nur noch ein Lebensziel: ihn zu überleben.«
Olson
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