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Todesreigen

Titel: Todesreigen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffery Deaver
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konnten sie gewalttätig werden, wenn man ihnen keine Münze geben wollte. Charles zog einen langen Dolch aus seinem Gürtel und stellte sich zwischen seine Frau und den Mann.
    »Ah, kein Grund zum Schweine-Aufspießen«, sagte der Mann und deutete mit dem Kopf auf den Dolch. »Dieses Schwein hier ist unbewaffnet.«
    Er hielt die leeren Hände hoch. »Nicht bewaffnet mit einem Dolch, sollte ich sagen. Nur mit der Wahrheit.«
    Er war eine merkwürdige Kreatur. Die Augen lagen tief im Schädel, und die gelbliche Haut war schlaff. Es war offensichtlich, dass ihm vor einigen Jahren eine Hure oder eine unmoralische Frau die Knochenschmerzen angehängt hatte, und diese Krankheit war nun dabei, ihm die letzten Qualen zuzufügen; das Wams, von dem Charles vermutet hatte, es sei einem dickeren Mann gestohlen worden, war zweifellos sein eigenes und saß nur wegen der Auszehrung so locker.
    »Wer seid Ihr?«, fragte Charles bestimmt.
    »Ich bin einer jener, denen Ihr den heutigen Theaterbesuch verdankt, denen Ihr Eure Profession als Händler des Traubennektars verdankt, denen Ihr Euer Leben in dieser feinen Stadt verdankt.« Der Mann atmete die Luft ein, die in diesen betriebsamen Vororten stets schwefelhaltig und faul war. Dann spuckte er auf das Kopfsteinpflaster.
    »Erklärt Euch und den Grund, warum Ihr mich verfolgt habt, sonst, wahrhaftig, mein Herr, werde ich Zeter und Mordio nach dem Sheriff schreien.«
    »Das ist nicht nötig, junger Herr Cooper.«
    »Ihr kennt mich?«
    »In der Tat, mein Herr. Ich kenne Euch nur zu gut.« Die gelben Augen des Mannes füllten sich mit Schmerz. »Lasst mich unverblümt und nicht länger in Rätseln sprechen. Mein Name ist Marr. Ich habe das Leben eines Gauners geführt und wäre zufrieden damit gewesen, den Tod eines Gauners zu sterben. Vor zwei Wochen aber ist mir der Herr, unser Gott, im Traum erschienen und hat mich ermahnt, Buße zu tun für die Sünden in meinem Leben, damit mir nicht der Einlass in den glorreichen Königshof des Himmels verwehrt wird. Wahrhaftig, mein Herr, ich kann Euch versichern, dass ich
zwei
Leben brauchen würde, um solche Buße zu leisten. Doch bleibt mir nur der Bruchteil eines Einzigen, so dass ich mich entschlossen habe, die beunruhigendste Tat zu sühnen, die ich begangen habe, und denjenigen aufzusuchen, dem ich das größte Unrecht zugefügt habe.«
    Charles musterte die klägliche Erscheinung und steckte seinen Dolch weg. »Und auf welche Weise habt Ihr mir Unrecht zugefügt?«
    »Wie ich zuvor schon sagte, war ich – und einige meiner Kameraden, die hingerafft wurden von der Pest und jetzt, das möchte ich wetten, die Hölle heimsuchen – verantwortlich dafür, dass vor so vielen Jahren das idyllische Landleben bei Stratford zu Ende ging und durch diese boshafte Stadt hier ersetzt wurde.«
    »Wie sollte das möglich sein?«
    »Ich flehe Euch an, mein Herr, sagt mir, welch große Tragödie in Euer Leben einbrach.«
    Charles brauchte nicht eine Sekunde zum Nachdenken. »Dass mein liebender Vater uns genommen wurde und wir unsere Ländereien einbüßten.«
    Vor fünfzehn Jahren hatte der Sheriff im Bezirk von Stratford behauptet, Richard Cooper wäre bei der unerlaubten Rotwildjagd auf dem Besitz von Lord Westcott überrascht worden, dem Baron von Habershire. Als die Amtsdiener des Sheriffs versuchten, ihn zu verhaften, hätte er einen Pfeil in ihre Richtung geschossen. Die Amtsdiener hätten ihn daraufhin gejagt und, als Folge eines Kampfes, erstochen. Richard Cooper war ein Ehrenmann mit Landbesitz, der es nicht nötig hatte, zu wildern, so dass man weithin zu der Überzeugung gelangte, der Vorfall wäre auf ein tragisches Missverständnis zurückzuführen. Trotzdem erließ ein örtliches Gericht – das der adligen Klasse wohlgesonnen war – den Beschluss, dass der Landbesitz der Familie an Westcott zu übergeben war, der ihn mit beträchtlichem Profit verkaufte. Der Schurke gab Charles’ Mutter nicht den geringsten Anteil des Geldes. Sie starb bald darauf vor Kummer. Der achtzehnjährige Charles, das einzige Kind, hatte keine andere Wahl, als nach London zu gehen und dort sein Glück zu suchen. Nach einigen Jahren als Arbeiter machte er eine Lehre als Weinhändler und wurde Mitglied der Gilde, und im Laufe der Jahre verschwand die Tragödie immer mehr aus seinen Gedanken.
    Marr wischte sich über den Mund und offenbarte dabei nur noch wenige Zähne wie ein sabberndes Kleinkind. Er sagte: »Ich wusste genau, dass die Antwort so lauten würde.«

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