Todesschiff: Ein Island-Krimi (German Edition)
sagte Margeir und sah das Kind an. »Das ist auch der Grund, warum wir nicht damit einverstanden waren, wie diese Experten mit ihr geredet haben. Man sollte doch meinen, dass solche hochgebildeten Leute sich mehr Mühe geben.«
»Wie meinen Sie das?«, fragte Dóra verständnislos. »Haben Sie gesehen, dass sie die Kleine nicht gut behandelt haben?«
»Nein, aber beim letzten Besuch durften wir ja nicht dabei sein.« Er streckte die Hand aus und strich Sigga Dögg sanft über den Fuß. »Jedenfalls sagt sie auf einmal Sachen, die sie aufgeschnappt haben muss, und da das nicht von uns stammt, kann es nur von diesem Beamtenpack sein, das meint, alles zu wissen und zu können. Wir sind noch nicht in der Lage, Gäste zu empfangen, sie hat also sonst kaum jemanden getroffen.«
Er zog seine Hand wieder zurück.
»Was sagt sie denn? Wie kommen Sie zu diesem Schluss?«
Die beiden pressten die Lippen zusammen und schienen die Frage ignorieren zu wollen. Dann tauschten sie einen Blick, und Sigríður bedeutete Margeir, zu antworten.
»Dinge, die mit dem Unglück zusammenhängen. Dinge, die sie sich nicht ausgedacht haben kann, weil sie viel zu erwachsen sind. Ein zweijähriges Kind weiß nichts vom E-r-t-r-i-n-k-e-n, geschweige denn vom T-o-d.« Er buchstabierte die beiden Wörter, damit das Kind sie nicht verstand. »Sie muss sie von jemandem aufgeschnappt haben, und da kommen nun mal nicht viele in Frage.«
Dóra wurde hellhörig. War es denkbar, dass das Kind die Worte nicht von der Psychologin oder der Sozialarbeiterin gehört hatte, sondern von seinen Eltern? Hatten sie sich beratschlagt und nicht darauf geachtet, dass die Kleine in der Nähe war? Es war durchaus vorstellbar, dass das Kind jetzt, da es spürte, dass seinen Eltern und Schwestern etwas zugestoßen war, die Worte wiederholte. Falls sich Lára und Ægir jetzt an irgendeinem geheimen Ort in der Sonne aalten, wussten Ægirs Eltern jedenfalls nichts davon. Ihre Trauer war zu echt und ihre Ratlosigkeit zu greifbar. Die Sache ging einfach nicht auf. So etwas tat man seinen Eltern und seinem Kind doch nicht an.
»Kinder lassen sich schnell ablenken. Sie denkt bestimmt bald an etwas anderes und spricht nicht mehr davon«, sagte Dóra und schaute dem kleinen Mädchen in die Augen. »Vielleicht Kätzchen? Magst du Katzen? Ich habe eine, die ist ziemlich dick.«
Sigga Dögg hob den Kopf von der Brust ihrer Großmutter. In dem kleinen Spalt zwischen ihren Lippen glänzte ein Speichelfaden. In dem merkwürdigen Licht, das durchs Fenster drang, sah er aus wie Silber.
»Mama!«
Dóra spürte, wie ihr das Blut in die Wangen schoss. Wie konnte sie nur auf die Idee kommen, in dieser Situation mit dem Kind über Kätzchen zu reden? Sie hatte keine Ahnung von Kinderpsychologie – den praktischen Teil des Psychologiestudiums hatte sie zwar mit ihren Kindern und ihrem Enkel hautnah absolviert, aber das reichte wohl kaum.
»Ja, mein Schatz«, sagte sie und wusste nicht, wie sie reagieren sollte. Sie hoffte, dass das Kind nichts Weiteres sagen oder die Großeltern eingreifen würden. Die saßen jedoch nur schweigend da und wirkten verwundert darüber, dass sie dieser fremden Anwältin so viel anvertraut hatten.
»Mama Wasser im Mund.« Das kleine Mädchen verzog das Gesicht. »Oh, oh.«
Dóra räusperte sich und schaute zu Sigríður und Margeir.
»Meinten Sie das?«
Die beiden nickten mit ängstlichen Augen.
»Da ist noch mehr«, sagte Sigríður fast flüsternd. »Warten Sie.«
Die Kleine nahm gar nicht wahr, dass ihre Großeltern ihr die ungeteilte Aufmerksamkeit schenkten. Sie saß mit aufgerissenen Augen da und starrte Dóra an. Die hatte das Gefühl, als wünsche sich das Kind, die Sprache besser beherrschen, mehr sagen und sich genauer ausdrücken zu können.
»Oh, oh, arme Adda und Bygga.« Sie stülpte die Unterlippe vor. »Böses Schwimmbad.«
Dóra war sich nicht sicher, ob sie richtig gehört hatte, nahm aber an, dass sie ihre Schwestern Arna und Bylgja meinte.
»Böses Schwimmbad?«, fragte sie.
Die Kleine nickte.
»Arme Adda und Bygga.« Sie reckte ihren Kopf in Dóras Richtung, was bei einem so kleinen Kind unheimlich erwachsen wirkte. »Böses, großes Schwimmbad. Wasser im Mund.«
Dóras Handy piepste, und ein grellblauer Schein leuchtete durch die Öffnung ihrer Tasche. Heilfroh über diese Unterbrechung, nahm sie entschuldigend das Handy heraus. Auf dem Display war die Nummer der Kanzlei. Dóra drückte den Anruf weg, obwohl das Display
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