Todessommer: Thriller (Rebekka Holm-Reihe) (German Edition)
den Bruder trotz der ernsten Lage direkt unter der Oberfläche brodelte. Steffen hatte ihn vor zehn Minuten durch ein anhaltendes Klingeln aus seinem Rausch geweckt. Zunächst hatte er nicht zu öffnen gewagt, sondern nur ein zögerliches Ja in die Sprechanlage gehaucht. »Ich bin’s«, hatte Steffen gebellt, und Bo hatte ihn schnell hereingelassen, während sich eine wohlbekannte Angst in seinem Bauch regte.
»Gibt es etwas Neues von Sofie?«, wiederholte Bo und schob seinem großen Bruder großzügig die Zigarettenschachtel hin. Steffens Augen ruhten auf ihm, abschätzend. Die Lederhaut darunter war faltig und ließ ihn alt aussehen, verhärmt.
»Wo warst du? Du wolltest doch kommen. Sofie hatte sich auf dich gefreut.«
Sofie hatte sich gefreut. Sofie hatte sich auf ihn gefreut. Steffens Worte lösten eine Lawine in Bos Innerem aus, die Gefühle stürzten zusammen und rissen einander mit wie Dominosteine, und plötzlich hatte er Schwierigkeiten sich auszudrücken. Stattdessen runzelte er die Stirn und trat einen Schritt auf seinen großen Bruder zu.
»Was meinst du?«
»Was ich meine?« Steffen erhob sich so heftig wie ein Springteufel vom Sofa. Das kannte Bo von ihm, und er wich erschrocken einen Schritt zurück. Steffen kam noch näher auf ihn zu, ihre Gesichter waren jetzt nur wenige Zentimeter voneinander entfernt, und der Größenunterschied von ungefähr zehn Zentimetern, der zu Steffens Vorteil ausfiel, untermauerte das Kräfteverhältnis. Bo wurde noch kleiner.
»Du weißt genau, was ich meine«, zischte Steffen. »Du warst zu dem Ausflug eingeladen, du hattest zugesagt, aber du bist nicht gekommen. Du hast nicht mal abgesagt, und als ich dich angerufen habe, um zu hören, wo du bleibst, bist du nicht ans Telefon gegangen. Wo warst du? Das ist eine einfache Frage. Antworte mir.«
Steffen atmete tief ein, seine Nasenlöcher weiteten sich und verliehen ihm ein unheimliches Aussehen, das Bo früher einen riesigen Schrecken eingejagt hatte. Jetzt fühlte er sich nur müde.
»Du glaubst doch nicht etwa …?« Bo beendete den Satz nicht, er war zu grausam, um ihn auszusprechen, zu grausam, um ihn ins Universum zu entlassen.
»Ich will nur wissen, wo du warst. Ich frage dich ein letztes Mal.«
Die Lust, seinen Bruder anzubrüllen, übermannte Bo. Was ging ihn das an, wo er gewesen war? Er hatte ihm nichts mehr zu sagen! Doch er widerstand dem Drang, die Worte herauszulassen. Stattdessen verschränkte er die Arme und sah demonstrativ zu seinem Bruder hoch.
»Ich bin nicht gekommen, weil ich es nicht gepackt habe. Das ist alles. Ich habe das ganze Familientrara mit schreienden Kindern, Picknickkorb und Decken auf der Wiese nicht ertragen.«
Steffens wachsamer Blick ließ langsam von ihm ab.
»Das hättest du doch gleich sagen können, oder? Jetzt haben wir die Polizei am Hals, und es ist plötzlich ungeheuer interessant, dass du nicht gekommen bist. Verstehst du das nicht? Das macht uns alle interessanter für sie.«
Bo fiel noch ein wenig mehr in sich zusammen, die Arme glitten an den Seiten hinunter, während er sich vorstellte, wie die Polizei ihn misstrauisch ansah.
»Ich habe nichts getan. Das weißt du doch, Steffen. Oder nicht?« Bos Stimme stieg um eine Oktave. Steffen sah ihn kalt an, und sie bewegten sich in rasantem Tempo zurück in die Kindheit. Bo trat einen Schritt von seinem Bruder weg. Steffen zuckte mit den Schultern, als würde das Gespräch ihn langweilen, trotz seiner Intensität und Brisanz.
»Ich weiß es nicht, Bo. Aber du musst selbst sehen, wie du aus der Nummer mit der Polizei wieder rauskommst. Ich kann nicht weiter dein Babysitter sein.«
Steffen ging mit langen Schritten zur Wohnungstür. Als er nach seinem Kapuzenpullover griff, der an der Garderobe in der Diele hing, drehte er sich zu seinem Bruder um.
»Wenn ich du wäre, würde ich mal lüften. Es stinkt nach Hasch.«
Die Tür fiel hart hinter ihm ins Schloss und Bo hörte, wie sich Steffens Schritte entfernten. Einen Augenblick lang stand er unbeweglich da, während Wellen dunkler Angst ihn durchströmten. Was sollte er tun, wenn die Polizei kam? Was zum Teufel sollte er tun? Sein Kopf fühlte sich leer an, wie immer, er hatte keine Idee, keine Initiative, keine Energie.
Bo sah sich in dem halb leeren Wohnzimmer um, ließ den Blick über das Regalsystem mit dem Kostbarsten wandern, das er besaß, nämlich seine Anlage, dann über die leeren Bierflaschen, die mehrere Regalbretter füllten, über die
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