Todessommer: Thriller (Rebekka Holm-Reihe) (German Edition)
Was hatten die anderen, das ihm fehlte?
Seine Gedanken kreisten erneut um seinen älteren Bruder, der durchs Leben jonglierte. Steffen hatte Anita, Patrick, Mark und Sofie – und bei dem Gedanken an Sofie verkrampfte sich Bos Herz kurz und heftig. Steffen hatte auch seinen Job im Klub, wo die jungen Typen zu ihm aufsahen. Steffen hatte sein Gewichtheben, seine Schlangen und vor allem sein Selbstvertrauen. Und er selbst – was hatte er außer seiner sparsam möblierten Anderthalbzimmerwohnung und seinem enormen Verbrauch an Hasch?
Der Neid traf ihn wie ein plötzlicher Peitschenschlag. Früher hatte Steffen auch Drogen genommen, Sozialhilfe bezogen und auf dem Sofa herumgelungert. Doch ihm war es gelungen, clean zu werden und etwas aus sich zu machen. Und jetzt passierte Steffen endlich einmal etwas Schlimmes. Etwas, das er nicht steuern oder regeln konnte. Steffen war schachmatt gesetzt. Der Gedanke, dass sein älterer Bruder auch einmal in der Klemme war, fühlte sich wunderbar und verboten an. Dann tauchte das Bild von Sofie wieder auf seiner Netzhaut auf. Ihre blauen Augen, die ihm bewundernd folgten, wenn sie ihn besuchte, ihre Zuwendung, ihr Eifer, ihm zu gefallen. Er hatte ihre Zuneigung genossen und sie mit der Aufmerksamkeit überschüttet, nach der sie so offensichtlich gierte.
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»Wir haben die Liste der Gespräche bekommen, die von Sofies Handy aus geführt wurden«, berichtete Brodersen.
Die Energie im Besprechungszimmer war gut, und die hohe Presseaufmerksamkeit, die Sofie und der Fahndung nach Allan Larsen zuteilwurde, ließ die Telefonleitungen glühen. Die Fenster zur Straße standen offen. Das schöne Wetter hatte die Besucherzahlen des Tivoli um mehrere Prozent ansteigen lassen, und die Freudenschreie von den Fahrgeschäften drangen bis zu den Ermittlern herein, die aufmerksam der letzten Entwicklung im Fall Sofie lauschten.
»Ein Teil der Anrufe geht natürlich zu ihr nach Hause, das heißt zu Anita Kyhn und Steffen Larsen, ein paar zu den Nachbarn, dem Ehepaar Kjeldsen, und einige zu ihrem großen Bruder und zu ein paar Freundinnen. Das einzig Auffällige ist die Tatsache, dass Sofie häufig mit Bo Olsen, also ihrem Onkel, telefoniert hat. Wenn ich häufig sage, meine ich das wortwörtlich. Sie hat durchschnittlich ein- bis zweimal mit ihm telefoniert oder ihm eine SMS geschickt …«, er blickte über den Brillenrand, um zu sehen, ob er die Aufmerksamkeit aller hatte, bevor er den Satz vollendete, »und zwar täglich.«
Ein Raunen ging durch den Raum, das sofort von lautem Gemurmel abgelöst wurde. Einer wollte wissen, ob die SMS noch zugänglich seien. Brodersen nickte, zog einen Ausdruck aus einem Stapel, der auf dem Tisch hinter ihm lag, rückte seine Brille zurecht und begann zu lesen:
»Am neunundzwanzigsten Juni diesen Jahres schreibt Sofie an Bo: Was machst du? Worauf er antwortet: Mich langweilen. Und du? Und sie schreibt: Vermisst du mich? Und er antwortet: Ja , gefolgt von einem Smiley.«
Die Ermittler rutschten hin und her, peinlich berührt. Brodersen schob seine Brille zurück in die Stirn und blickte ernst. »Es gibt eine ganze Menge von Beispielen für diese Art von Korrespondenz zwischen den beiden, aber sie wird nie intimer, und man kann hineinlesen, was man will. Doch es besteht kein Zweifel, dass Sofie ihren Onkel oft besucht hat, wovon ihre Eltern keine Ahnung haben.«
Sein Blick suchte Rebekkas und Rezas. »Ihr habt Bo Olsen gestern befragt. Soweit ich es dem Protokoll entnehmen kann, hat er nichts davon gesagt, dass er täglich Telefonkontakt mit ihr hatte und dass sie ihn oft besucht hat, oder?«
»Ganz im Gegenteil. Er hat uns den Eindruck vermittelt, dass er Sofie für ein nettes Mädchen hält und sonst nichts. Die SMS erschüttern mich, muss ich zugeben.«
Brodersen nickte ernst. »Das ändert unseren Blickwinkel oder weitet ihn zumindest aus. Unser Hauptinteresse richtet sich nach wie vor auf Sofies biologischen Vater, Allan Larsen, doch es besteht kein Zweifel, dass wir noch einmal mit Bo Olsen reden müssen. Heute, und zwar hier im Präsidium. Mittlerweile sind massenhaft Hinweise aus der Bevölkerung eingegangen, die wir gerade durchgehen. Mehrere davon scheinen interessant, aber keiner springt sofort ins Auge, leider …«
Es klopfte an der Tür. Brodersens Sekretärin, eine Frau mittleren Alters mit einer dicken Schicht Lippenstift, reichte ihm einen Zettel, den er mit gerunzelter Stirn las. Er nickte kurz, sie verschwand wieder, und er
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