Todesspirale: Roman (German Edition)
der Fall gewesen, hätte sie wahrscheinlich, wie sie freimütig eingestand, auch sonst keine Zeit gehabt, um sich an irgendwelchen gesellschaftlichen Aktivitäten zu beteiligen. Ihr Leben war zu dem Zeitpunkt ein Kontinuum von Schule, Eislaufen, Hausarbeit und Schlafen gewesen. Aber es wäre nett gewesen, eine Möglichkeit zu haben, die Flügel auszuprobieren. Vielleicht, ganz vielleicht hätte sie einen Weg gefunden, diesen Bereich noch zwischen ihre vielen Pflichten zu quetschen. Sie hatte aber nie die Möglichkeit gehabt, das herauszufinden. Stattdessen musste sie, gleich nachdem die Schulglocke geklingelt hatte, nach Hause eilen, und ihre Verbindung mit Ivan Petralahti trug zusätzlich zu ihrer allgemeinen Entfremdung bei. Dazu kamen die vielen Reisen zu den verschiedenen Wettkämpfen in weit entfernten, exotischen Orten, was mehr als ausreichte, sie zur Außenseiterin in dem Teil der Stadt, in dem sie lebte, zu stempeln.
Und sie deswegen als leichte Beute eingeschätzt wurde.
Sie war praktisch von dem Augenblick an angefeindet worden, als bekannt wurde, dass Ivan ihr Privatunterricht auf seinem Gelände erteilte. Mühlenarbeiter redeten am häuslichen Esstisch über sie, und im Wesentlichen waren sich alle darin einig, dass Carole Millers Kind sich für etwas Besseres hielt. Und wenn ihre Kinder nach Hause kamen, erzählten sie ihnen, dass sie sie für einen überheblichen Snob hielten. Sogar die Freunde, die sie hatte, bevor Ivan Petralahti in ihr Leben trat, hatten nichts Eiligeres zu tun, als das zu bestätigen, sobald Sashas freie Zeit durch ihr neues Eislauftraining beschnitten worden war.
Es hatte weh getan, das konnte sie nicht leugnen. Aber sie hatte Mama und Lonnie gehabt, der eine ähnliche Ausgrenzung erlebt hatte, und vielleicht noch wichtiger, sie hatte ihre Trainingsstunden mit Ivan. Das Eislaufen machte quasi alles wett.
Und so ging es über mehrere Jahre. Sie und Lonnie waren anders als die üblichen Mühlenarbeiterkinder, und als solche wurden sie schroff ausgeschlossen. Der durchschnittliche Arbeiter der Westseite hatte gut zu tun, um für genügend Essen auf dem Tisch zu sorgen – ganz zu schweigen von irgendwelchen Extras – und es gab offenen Neid, der sich von den Eltern auf die Kinder übertrug, was die Kosten betraf, die in ihre Ausbildung als Eiskunstläufer gesteckt wurden.
Dann begann Sasha sich körperlich zu entwickeln, und die unverhohlene Ächtung, die sie schon kannte, begann düstere Untertöne anzunehmen.
Mit fast sechzehn Jahren kam Sasha etwas später in die Pubertät als die meisten Mühlenarbeitertöchter. Sie war immer schon klein gewesen, eher zierlich und sehnig, und hatte jünger ausgesehen, als sie war. Bis kurz vor ihrem sechzehnten Geburtstag hatte sie spitze Schulterblätter und knubbelige Knie, große Augen, einen breiten Mund und kaum zu bändigendes Haar.
Ich bin so hässlich, Mama , hatte sie häufig lamentiert. Ich werde immer wie eine Missgeburt aussehen.
Nein, meine Süße , hatte ihre Mutter ausnahmslos erwidert, Sasha das dichte, weiche Haar aus dem Gesicht gestrichen und sie angelächelt. Glaub mir, Kleines; eines Tages wirst du ein Schwan.
Aber Sasha wusste, dass alle Mütter ihre Töchter für schön hielten; das machte ihr Urteil höchst fragwürdig.
Dann schien sich über Nacht alles, was ihr vorher entweder merkwürdig oder plump vorgekommen war, neu anzuordnen in einer Weise, die insgesamt erfreulich war. Sie hatte nicht länger so viele vorstehende Knochen; überall trat eine neue feminine Weichheit zum Vorschein. Sie war in den sanft gerundeten Hüften und ihrem Po zu sehen; in ihren runderen Schenkeln und Waden; in ihren weicheren Schultern und Armen. Sie war plötzlich stolze Besitzerin einer Kontur, die weit davon entfernt, üppig zu sein, ihr das erste Mal in ihrem Leben ein Gefühl von Weiblichkeit gab. Um alles abzurunden, behielt sie sogar ihre großen Augen und ihren breiten Mund. Auch das schien sich über Nacht gelöst zu haben. Sie ging eines Abends zu Bett, überzeugt, dass, während ihr Körper endlich eine gewisse Ähnlichkeit mit etwas Weiblichem angenommen hatte, ihr Gesicht für immer potthässlich bliebe. Sie erwachte am nächsten Morgen, um zu entdecken, dass Sasha Miller nicht länger unansehnlich, sondern tatsächlich richtiggehend... hübsch war.
Es hätte ihr gegönnt sein sollen, sich über diese Entdeckung zumindest für eine kurze Weile zu freuen. Aber der Hass ihrer Schulkameraden schien Schritt zu halten mit
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