Todesstoß / Thriller
ich dir beim Essen erklären. Kann ich wenigstens das noch tun?«
»Ja.« Ihr Flüstern war kaum hörbar.
»Es war kurz vor Weihnachten, vor einem Jahr. Ein Kollege ging in den Ruhestand und gab eine Abschiedsparty im Sal’s. Da habe ich dich zum ersten Mal gesehen.«
»Ja, ich erinnere mich.«
»Du standst hinter der Bar. Ich weiß noch, dass ich sofort gedacht habe, wie hübsch du bist. Meine letzte Beziehung war im Sande verlaufen, und ich hatte schon lange keine Frau mehr getroffen, für die es sich lohnte, Zeit freizuschaufeln. Du aber warst mir sympathisch, und ich dachte, dass ich dich vielleicht mal einladen könnte. Dann ging die Tür auf, und eine Frau trat ein. Sie war dreckig, sie stank, und sie sah aus, als sei sie ständig betrunken. Erinnerst du dich?«
»Ja. Ein paar Gäste wollten sie rauswerfen.«
»Aber du hast ihr einen Platz angeboten, ihr einen Kaffee serviert und sie reden lassen. Ich glaube, du hast sogar mit ihr geweint.«
»Ihr Sohn war gestorben. Gerade zu Weihnachten ist es immer schwer für Menschen, die jemanden verloren haben.«
»Das weiß ich sehr gut. Ich glaubte, du würdest sie eine Weile reden lassen und ihr dann vielleicht ein Taxi bestellen. Aber du hast ihr immer mehr Fragen gestellt, bis du genug wusstest, um den Sohn anzurufen, der ihr noch geblieben war. Er kam, um sie abzuholen, und obwohl seine Mutter ihm unendlich peinlich war, war er doch dankbar, dass du sie in der Kälte nicht einfach auf die Straße gesetzt hast.«
»Na ja, das hätte doch niemand getan.«
Er sah sie scharf an. »Da täuschst du dich aber gewaltig. Weißt du, wie oft ich einen Anruf bekommen habe – ›Noah, deine Mutter irrt hier ohne Mantel durch die Straßen.‹ – und losgerannt bin, um sie zu suchen? Fast immer hatte ein Barkeeper sie aus dem Lokal geworfen und sie als Pennerin beschimpft, und vielleicht war sie das ja, aber sie blieb eben auch meine Mom. Du dagegen warst nett zu der Frau.«
»Ich habe getan, was jeder tun sollte.«
»Was aber nur wenige tun. Jedenfalls kam ich in der folgenden Woche wieder ins Sal’s, die Woche danach auch. Bestellte mein Tonic, beobachtete dich und erlebte, wie freundlich du mit anderen umgingst. Du hast mich gefragt, warum ich immer wieder gekommen bin. Darum. Und jetzt könnte ich mich treten, weil ich solange tatenlos geblieben bin.« Sie sagte nichts, und er wusste, dass er es jetzt gut sein lassen musste. Für den Augenblick wenigstens. »Komm. Ich hole deinen Mantel und bringe dich, wo immer du hingebracht werden möchtest.«
Er ging zur Tür, aber sie rührte sich nicht. Ihre Miene spiegelte ihre Unsicherheit wider, und plötzlich spürte er neue Hoffnung. »Gehen wir oder bleiben wir?«, fragte er.
»Du hast mich auf ein Podest gehoben. Deinen Erwartungen kann ich unmöglich gerecht werden. Wenn ich bliebe – wenn ich es versuchte –, wärst du zwangsweise enttäuscht.«
Er kam zu ihr zurück und umfasste ihre Schultern. »Vielleicht. Oder du von mir. Aber wie sollen wir das je herausfinden, wenn wir es nicht versuchen?« Er küsste sie, und war erleichtert, als sie sich auf Zehenspitzen stellte, um ihm entgegenzukommen. Er unterbrach den Kuss, um Luft zu holen. »Hast du es nicht satt, anderen Leuten beim Leben zuzusehen? Ich schon.«
Ihr Puls pochte in der Mulde an ihrem Schlüsselbein. »Versprich mir etwas.«
»Wenn ich kann.«
»Wenn du enttäuscht bist, dann geh. Bleib nicht aus Mitleid.«
Er legte seine Stirn an ihre und drückte mit bebenden Fingern ihre Schultern. »Du machst dir viel zu viele Sorgen, Eve.«
»Ich weiß«, sagte sie. »Aber du bist nicht viel besser. Können wir das als gemeinsamen Nenner akzeptieren?«
Er legte seine Hände an ihre Wangen. »Ich glaube, da finden wir noch einen besseren.« Aber er zögerte, weil er nicht wusste, wo er sie berühren durfte. »Was kann ich tun?«
Sie presste die Kiefer zusammen. »Ich weiß es nicht.«
Noah dämmerte es plötzlich. »Hat es niemanden mehr für dich gegeben, seit …?«
Sie lächelte verkrampft. »Einen. Aber es lief nicht gut.«
»Ich hätte da eine Idee. Du vertraust mir, hast du gesagt?«
Ihre dunklen Augen verfinsterten sich, als Furcht die Erregung verdrängte. Dennoch nickte sie. »Ja. Ich vertraue dir.«
»Dann zieh deinen Mantel an und komm.«
Mittwoch, 24. Februar, 19.45 Uhr
Man hätte meinen sollen, dass die Leute ihre Häuser besser sicherten. Vor allem dann, wenn sie gerade der Polizei verraten hatten, dass sie die Letzten
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