Todestanz
holen.
Clare wartete in dem zugigen Durchgang. Aus dem Raum
ihr gegenüber waren die Opfer dieses Tages bereits weggeschafft worden. Jetzt standen dort zwölf geputzte Metallsärge aufgereiht, sechs auf jeder Seite des Raumes: Sie standen bereit für die erste Ladung derer, die das Wochenende nicht überleben würden. Rechts, auÃerhalb ihres Blickfeldes, befanden sich die Kühlfächer. Die Assistenten kehrten zurück, manövrierten die Rollbahre geschickt um alle Ecken und parkten sie dann auf einem freien Platz im Sezierraum.
»Sind Sie bereit, Clare?«
»Ich bin bereit.«
Das war gelogen. Die Bahre war viel zu groÃ. Und der Leichnam auf der Stahlplatte viel zu klein, als die Pathologin das Laken zurückschlug. Die blutlosen Lippen des Kindes waren nach oben gezogen, als wollten sie das Grinsen parodieren, das in den schlanken Hals geschnitten worden war. Clare presste die Handflächen zusammen, bis der schmerzhafte Druck des Rings an ihrem Finger sie ablenkte.
»Sie sind ganz blass, Clare.«
»Es geht schon.« Clare schluckte. »Machen Sie weiter.«
Dr. Lyndall schnitt das Mädchen aus den Kleidern: rosa Hosen mit aufgestickten gelben Gänseblümchen an den Knien, dazu ein Hemd mit einem Rundkragen aus getrocknetem Blut. Ein Billigkaufhaus-Höschen mit einem losen roten Faden, den die statische Spannung an den Ãrmel der Pathologin zog, sobald sie zu arbeiten begann.
Dunkle Wimpern lagen in einem Fächer auf den Kinderwangen. Ruth Lyndall strich in einer instinktiven mütterlichen Geste über die dunklen Locken. Gewissenhaft arbeitete sie sich von Kopf bis Fuà vor, fotografierte und katalogisierte das Muster von alten und neuen Verletzungen. Ein schon gelbliches Hämatom auf dem Rücken â von letzter Woche. Eine Verdickung im linken Schlüsselbein. Ein alter Bruch. In der empfindlichen, eingefalteten Haut zwischen
ihren Beinen war ein verheilter Riss zu erkennen. Nicht eindeutig. Abschürfungen an Knien und Handflächen. Nicht eindeutig. Verletzungen, die man sich auch beim Spielen zuziehen konnte. Auf Rutschen, Schaukeln, Wippen. Nicht notwendigerweise ein Hinweis darauf, dass ein kleines Mädchen um sein Leben rannte, stolperte und nicht mehr wegkam. Auf den eingerissenen Fingernägeln hafteten Reste von rosa Nagellack. Dr. Lyndall schabte den Schmutz unter den Fingernägeln hervor, in der Hoffnung, dass sich unter dem Dreck auch Hautfetzen finden würden. Am Oberarm eine Reihe von runden Abdrücken. Die Hand eines Erwachsenen  â dem Abstand der Abdrücke nach zu schlieÃen die eines Mannes â hatte sie festgehalten. Dann die Kehle. Hoch erhoben in seiner freien Hand das Messer, das unerbittlich herabstieÃ.
»Das Mädchen ist über rauen Boden gelaufen.« Clares Finger schwebte über dem Spann des kleinen Mädchens.
Ruth Lyndall nahm den Kinderfuà in ihre schmalen Hände. An der Seite des verdreckten FuÃes waren Reste eines Henna-Tattoos zu erkennen. Am linken Fuà hing noch ein weiÃer Schuh.
»Schauen wir sie mal von innen an.«
Froh, den Blick von dem nackten Kind abwenden zu können, half Clare der Pathologin, die Rollbahre unter dem Röntgenapparat zu positionieren. Dann betrachtete sie das geisterhafte Abbild des Kindes. Das von Start-, Ordner- und Papierkorb-Icons umrahmte Spektralbild auf dem Computerbildschirm war durchaus erträglich. Das Original war es nicht.
»Das habe ich mir gedacht.« Die Pathologin schob den Mauspfeil auf dem Bildschirm über das Gitterwerk aus Rippenknochen. Auf jeder Rippe leuchtete eine weiÃe Verdickung. »Der einzige Schmuck, den dieses Mädchen je besitzen wird.«
»Was sagt Ihnen das?«
»Dass das Mädchen von klein auf misshandelt wurde«, erklärte Dr. Lyndall. »Diese Art von Knochenbrüchen findet man nur bei Kindern, die als Babys oder Krabbelkinder heftig geschüttelt wurden. Die Knochen brechen unter dem Druck und bilden beim Zusammenwachsen Verdickungen. Wir nennen das eine Perlenketten-Fraktur.«
»Werden Sie sie aufschneiden?«, fragte Clare.
»Ich muss. Das hier â dazu die alten vaginalen Verletzungen  â, die Tatsache, dass sie nicht vermisst gemeldet wurde, all das deutet auf ein Familiendrama hin.«
Sie schaltete die Maschine ab, und Stille senkte sich über den Raum.
»Ich muss los, sonst komme ich zu spät zu meiner eigenen
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