Todfeinde
nächsten Absatz, der ihn in der Diensthütte hatte frösteln lassen:
Etwas ist ganz und gar nicht in Ordnung mit mir. Ich bin nicht mehr allein. Da ist jemand in meinem Kopf. Ich habe alles verloren, und demnächst verliere ich den Verstand. Womöglich ist das schon geschehen. Ich handle wie ferngesteuert und beobachte mich dabei, Dinge zu sagen und zu tun, die nur mein Körper sagt oder tut, nicht mein Bewusstsein. Lieber Gott, wirst du mir helfen? Oder irgendjemand sonst? Nein, niemand außer Stella.
Joes Blick glitt vom Notizbuch zu dem Umschlag auf dem Tisch – der Einladung zur Party bei den Ennises. Stella war die einzige Person gewesen, der Will vertraut hatte. Sie war die Verbindung. Stand sie ihm letztendlich nahe genug, um über all sein Handeln Bericht erstatten zu können? Und wie mochte sie es »ihnen« erleichtert haben, sich seiner zu bemächtigen, wie er geschrieben hatte?
Er konnte sich nicht dazu durchringen zu glauben, dass Stella diese Verbindung darstellte – nicht, nachdem sie ihn so angesehen hatte. Niemand war doch imstande, einen solch sorgenvollen Blick bloß vorzutäuschen und so gut zu schauspielern! Sie hatte in diesem Kampf auf Wills Seite gestanden; er hatte ihr vertraut. Doch als Joe beim Frühstück von den Schlafmitteln erzählt hatte, deren Rückstände sich dem Arzt zufolge in seinem Blut befanden, hatte sie seltsam reagiert. Die Nachricht hatte eindeutig etwas in ihr ausgelöst. Doch ihm war klar: Er musste eine Entscheidung über Stella treffen, die nichts mit Will zu tun hatte. Und zwar noch heute Abend.
Joe rieb sich die Augen. Sein Kopf war voller Fragen zu Will, doch bis jetzt besaß er keine Antworten. Er war müde und enttäuscht und wünschte sich eigentlich nichts weiter als ein Bier. Ohne an seine genähte Wunde zu denken, stieß er sich vom Tisch ab und spürte sofort einen jähen Schmerz. Je weiter der Tag voranschritt, desto mehr tat seine Wunde weh. Dr. Thompson hatte ihm zur Schmerzlinderung Paracetamol verordnet, und Joe beschloss, eine Tablette zu nehmen.
Als er sein Glas am Wasserhahn des Kühlschranks füllte, schaute er gedankenverloren durchs Fenster auf Wills alten Pick-up in der Einfahrt. Auf dem Gehsteig führte ein Mann mit Baskenmütze seinen Hund aus und sah verstohlen herüber, wie neugierige Nachbarn das eben tun.
Die Tablette auf der Zunge und das Glas an den Lippen, erstarrte Joe plötzlich, und mehrere Gedanken stürmten gleichzeitig auf ihn ein.
Rückstände von Schlafmitteln.
Wills Pick-up.
Der Eindringling, der nachts gegen die Hauswand geschlagen hatte.
Er wusste, wie sie es eingefädelt hatten.
Und jetzt machten sie das Gleiche mit ihm .
Er stellte das Glas ab, spuckte die Tablette aus und öffnete die Haustür. Der Nachbar sah auf und bekam kurz große Augen. Dann lächelte er erleichtert.
»Gute Güte, ich dachte schon, Sie wären …«
»Ich weiß «, erwiderte Joe.
Verdutzt setzte der Mann seinen Spaziergang fort.
Joe riss die Pick-up-Tür auf, leuchtete mit der Taschenlampe in den bunten Kabelsalat unterm Armaturenbrett und brauchte einen Moment, um zu finden, was er suchte. Kaum berührte er es mit den Fingerspitzen, fröstelte ihn bei der Vorstellung, wie sie die Sache durchgezogen hatten.
Er stieg aus und schüttelte den Kopf.
»Kann ich kurz mit Ihnen reden?«, rief er dem Nachbarn zu, der schon fast die nächste Querstraße erreicht hatte.
»Mit mir?« Der Mann zog an der Leine, damit sein Hund mit ihm umkehrte.
Als er schließlich vor ihm stand, fragte Joe: »Sie wohnen doch schon lange hier, oder? Kannten Sie Will Jensen?«
»Ja«, erwiderte der Nachbar vorsichtig.
»Und Sie gehen jeden Abend mit dem Hund spazieren?«
Der Mann nickte. »Sofern das Wetter es zulässt.«
»Auch an dem Abend, als Will Jensen starb?«
34. KAPITEL
Zusätzlich zu bewaffneten Sicherheitsleuten, die am Eingang zum Ennis-Anwesen die Einladungen der ankommenden Gäste prüften, waren Mitarbeiter des Geheimdiensts zugegen. Joe wartete hinter einem schwarzen Geländewagen und wünschte, er wäre mit seinem Pick-up noch durch die Waschanlage gefahren.
Ein Security-Mann leuchtete ihm mit der Taschenlampe ins Gesicht und forderte ihn auf, ihm den Führerschein zu geben.
»Ich kenne Sie«, sagte er, als er Joes Namen las. »Sie haben Smoke Van Horn erschossen.«
Joe nickte und sah weg. Ein Geheimdienstmitarbeiter tauchte hinter dem Sicherheitsmann auf, ging um die Motorhaube des Pick-ups herum zur Beifahrerseite und öffnete die
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