Todgeweiht im Münsterland - Westfalen-Krimi
eben zum Hafen runtergehen und ein paar
ganz schlaue Freizeitsegler warnen.‹
›Richard ist auch
mit seinem Boot draußen.‹
Erschrocken sah
der Alte sie an. In seinem zerfurchten Gesicht schien es zu beben, als kündigte
sich der Sturm zuerst dort an. ›Das ist nicht gut, Mädchen. Das ist gar nicht
gut.‹
›Vielleicht kann
ich ihn noch aufhalten. Er ist noch nicht lange fort.‹ Amelie lief so schnell,
wie sie noch nie gelaufen war, doch am Strand angekommen, sah sie Richards
Segelboot nur noch als kleinen Punkt draußen auf dem Meer. Er war schon zu
weit, um ihn noch zu erreichen. Dennoch schrie sie, rief, schwenkte die Arme,
während sich über ihrem Kopf der Himmel dunkel verfärbte und der Wind an ihren
schwarzen Haaren zerrte. Erst waren es Tränen, die ihr übers Gesicht liefen,
dann dicke Regentropfen.
Es war ein
erbarmungsloser Sturm, der an jenem Samstagnachmittag die Wochenendstimmung der
Bewohner von Norddeich zunichtemachte. Viele der Boote im Hafen wurden stark
beschädigt. Drei Männer starben, zwei auf hoher See und einer, weil er zwischen
den Booten im Hafen eingeklemmt wurde. Amelie holte man völlig durchnässt und
erschöpft vom Strand. Sie bekam hohes Fieber und war erst nach drei Tagen
wieder ansprechbar. Richards Boot wurde am Tag nach dem Sturm zerstört
angeschwemmt, Richard selbst blieb verschwunden und wurde irgendwann für tot
erklärt.
Amelie kam mehr
oder weniger darüber hinweg und nahm ihr Leben selbst in die Hand. Sie wurde
Lehrerin und hatte plötzlich ganz viele Kinder, um die sie sich kümmern musste.
In der hiesigen Grundschule hängt noch heute ein Bild von ihr. Sie blieb in dem
gemeinsamen Haus wohnen, oft sah man sie am Strand entlangspazieren und stundenlang
aufs Meer hinausstarren. Trotz vieler Verehrer blieb sie den Rest ihres Lebens
allein. Sie starb mit Anfang fünfzig an einer Lungenentzündung.«
Ich hörte Martin
tief einatmen. »Und jetzt kommt es, Michael. Einige Einheimische erzählen, dass
man Amelie auch nach ihrem Tode manchmal am Strand gesehen habe. In einer
blauen Leinenhose und einer weißen Tunika. Sie hatte sich damals ausdrücklich
gewünscht, in diesen Sachen begraben zu werden, was in der damaligen Zeit
natürlich beinahe einen Skandal verursacht hätte. Sie tauchte nicht oft auf,
manchmal vergingen Jahre, bis wieder jemand behauptete, er habe Amelie gesehen.
Und sie kam immer nur an Samstagen an den Strand.«
Mir lief eine
ganze Horde Ameisen den Rücken hinunter. Auch meine Begegnung mit dieser
merkwürdigen Frau hatte an einem Samstag stattgefunden.
»Die meisten haben
sie nur aus der Ferne gesehen, weshalb man ihren Aussagen eher wenig Bedeutung
beigemessen hat. – Michael, geht es dir gut?«
»Ich höre dir zu,
Martin. Und ich sitze.«
Ich hörte ein
nervös klingendes Lachen. Dann sprach Martin weiter. »Doch unter einigen
alteingesessenen Küstenbewohnern hält sich hartnäckig das Gerücht, Amelie habe
mit einigen Menschen leibhaftig gesprochen.«
»Und was ist mit
diesen Auserwählten geschehen?«
»Sie sind meistens
kurze Zeit später verstorben.«
»Findest du es
sonderlich beruhigend, was du da für mich herausgefunden hast?«
»Nein, warte,
Michael. Die Leute hier gehen davon aus, dass Amelie nicht einfach den Tod
prophezeien will, sondern dass sie am Strand herumläuft, um die Menschen zu
warnen. Etwas, das ihr bei ihrem Mann missglückt war. Sie muss sich zeitlebens
Vorwürfe gemacht haben, dass sie erstens diesen Streit begonnen und zweitens
als Einheimische nicht erkannt hat, dass ein so starker Sturm aufzieht.«
Ich lachte hart
auf. »Ihre Warnungen scheinen aber nichts zu bewirken, immerhin sterben die
Leute trotzdem. Amelie macht ihnen und mir das Sterben nur etwas schwieriger.«
Jetzt war ich auf diese Dame wirklich sauer, und ich musste mich bemühen, die Vorwürfe
nicht gegen Martin zu richten. In früheren Zeiten hatten gestresste Herrscher
die Überbringer von schlechten Nachrichten gar nicht so selten mit dem Leben
bezahlen lassen. Erschreckend nachvollziehbar. »Tut mir leid, Martin.«
Er räusperte sich
und suchte hörbar nach den richtigen Worten. »Vielleicht solltest du das Ganze
als Warnung ansehen und dich entsprechend verhalten. Was tut man, wenn man
gewarnt ist? Man meidet die Gefahr.«
»Sie hätte
zumindest erwähnen können, woran ich sterben werde. Hätte unsere Amelie
beispielsweise gesagt, dass ich ertrinke, könnte ich an meinem vorgesehenen
Todestag Gewässer meiden und Getränke mit dem
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