Todsünde
Genervt starrte sie das Ding an; am liebsten hätte sie es aus dem Fenster geworfen.
»Geh lieber dran«, sagte er giftig. »Es ist vielleicht eine Leiche, die dich dringend braucht.«
»Die Toten verdienen unsere Aufmerksamkeit.«
»Weißt du, Maura, das ist der Unterschied zwischen dir und mir. Dir sind die Toten wichtiger als die Lebenden. Bei mir ist es umgekehrt.«
Sie sah ihm nach, als er davonging, ohne sich noch einmal umzudrehen.
Ihr Telefon hatte aufgehört zu läuten.
Sie klappte es auf und sah, dass der Anruf vom St.-Francis-Hospital gekommen war. Sie hatte auf die Ergebnisse von Ursulas zweitem EEG gewartet, doch jetzt konnte sie sich nicht damit befassen. Erst einmal musste sie noch Victors letzte Worte verdauen.
Rizzoli kam aus dem Vernehmungszimmer und ging direkt auf sie zu. Ihre Miene drückte Bedauern aus. »Es tut mir Leid, dass wir Sie nicht mithören lassen konnten«, sagte sie. »Sie verstehen doch, wieso, nicht wahr?«
»Nein, ich verstehe es nicht.« Maura ließ das Handy in ihre Handtasche fallen und sah Rizzoli in die Augen. »Ich habe ihn zu Ihnen gebracht. Ich habe Ihnen die Antwort präsentiert.«
»Und er hat alles bestätigt. Das Bhopal-Szenario. Sie hatten Recht, was die toten Vögel betraf.«
»Und doch haben Sie mich ausgesperrt. Als ob Sie mir nicht vertrauten.«
»Ich habe versucht, Sie zu schützen.«
»Wovor? Vor der Wahrheit? Vor der Tatsache, dass er mich missbraucht hat?« Maura lachte verbittert auf und wandte sich zum Gehen. »Das wusste ich schon vorher.«
Maura fuhr durch das immer dichter werdende Schneetreiben zum Krankenhaus. Mit ruhigem, sicherem Griff hielt sie das Lenkrad gepackt. Die Königin der Toten, auf dem Weg, um eine neue Seele in ihr Reich zu holen. Noch ehe sie im Parkhaus aus dem Wagen stieg, hatte sie sich so weit gefasst, dass sie wieder bereit war, die Rolle zu spielen, die sie so gut beherrschte, und jene Maske aufsetzen konnte, die alles war, was die Welt von ihr sehen durfte.
Sie stieg aus ihrem Lexus und steuerte mit wehendem schwarzen Mantel den Aufzug an. Das Klacken ihrer Stiefelabsätze hallte von den Betonmauern wider. Die Natriumdampflampen tauchten die Autos in ein unwirkliches Licht, und sie hatte das Gefühl, durch einen orangefarbenen Nebel zu wandeln, der sich auflösen würde, sobald sie sich die Augen rieb. Sie sah keinen Menschen weit und breit und hörte nichts als das Echo ihrer eigenen Schritte.
In der Eingangshalle des Krankenhauses ging sie an dem mit bunten Lichtern behängten Weihnachtsbaum vorbei. An der Rezeption saß eine ältere Frau, offenbar eine freiwillige Helferin, die sich eine rote Nikolausmütze keck auf die grauen Locken gesetzt hatte. Aus dem Lautsprecher tönte »Jingle Bells«.
Selbst in der Intensivstation herrschte fröhliche Weihnachtsstimmung, es war, als hätte sich Monty Python diese Szenerie ausgedacht. Die Stationszentrale war mit Girlanden aus Plastik-Tannenzweigen geschmückt, und die Stationssekretärin trug Ohrringe in Form von winzigen goldenen Christbaumkugeln.
»Ich bin Dr. Isles vom Rechtsmedizinischen Institut«, stellte sie sich vor. »Ist Dr. Yuen hier?«
»Er ist gerade zu einer Not-OP gerufen worden. Er hat Dr.Sutcliffe gebeten, zu kommen und das Beatmungsgerät abzuschalten.«
»Haben Sie eine Kopie der Patientenakte für mich?«
»Ist alles für Sie vorbereitet.« Die Sekretärin deutete auf einen dicken Umschlag mit der Aufschrift »Kopie für Gerichtsmedizin«, der auf dem Tresen lag.
»Vielen Dank.«
Maura öffnete den Umschlag und zog die fotokopierten Blätter heraus. Dort las sie die traurige Anhäufung von Indizien dafür, dass Schwester Ursula nicht mehr zu retten war: Zwei separate EEGs hatten keinerlei Hirnstromaktivität gezeigt, und eine handgeschriebene Notiz des Neurochirurgen Dr. Yuen gestand die Niederlage ein.
Patientin reagiert weiterhin nicht auf starke Schmerzreize. Keine Spontanatmung. Pupillen unverändert mittelweit und lichtstarr. Wiederholungs-EEG zeigt keinerlei Hirnstromaktivität. Herzenzyme bestätigen Myokardinfarkt. Dr. Sutcliffe beauftragt, Familie über Status zu informieren.
Beurteilung: Irreversibles Koma, bedingt durch längere Hirnanoxie infolge kürzlich erlittenen Myokardinfarkts.
Schließlich wandte sie sich den Seiten mit den Laborergebnissen zu und erblickte säuberlich ausgedruckte Auflistungen von Blut- und Urinwerten. Welch eine Ironie, dachte sie, als sie die Kopien wieder in den Umschlag steckte,
mit einem so
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