Todsünde
Moment, als sie es sagte, dass es nur eine höfliche Lüge war. Das einzig Vernünftige war, zu gehen und sich nie mehr nach diesem Mann umzudrehen.
Und genau das tat sie auch.
Als sie aus dem Krankenhaus ins Freie trat, traf die kalte Luft sie wie ein Schlag. Sie presste den Umschlag mit den Kopien fest an ihre Brust und stemmte sich mit gesenktem Kopf gegen den eisigen Wind. An diesem heiligen Abend war sie ganz allein unterwegs – und die Patientenakte einer Toten ihre einzige Begleiterin. Auch im Parkhaus begegnete ihr kein Mensch, und wieder hörte sie nichts als das Geräusch ihrer Schritte, die von den Betonwänden widerhallten.
Sie beschleunigte ihren Schritt. Zweimal blieb sie stehen und vergewisserte sich, dass niemand ihr folgte. Schwer atmend erreichte sie endlich ihren Wagen. Ich habe zu lange dem Tod in die Augen geschaut, dachte sie. Jetzt habe ich das Gefühl, dass er überall lauert.
Sie stieg ein und verriegelte die Türen.
Frohe Weihnachten, Dr. Isles. Jeder erntet, was er gesät hat, und deine Ernte heißt heute Abend Einsamkeit.
Als sie aus dem Parkhaus hinausfuhr, blendeten sie plötzlich die Scheinwerfer eines anderen Autos im Rückspiegel. Irgendjemand war kurz nach ihr losgefahren – Pater Brophy vielleicht? Und wohin würde er heute, an Heiligabend, fahren? Zurück in seine Wohnung im Pfarrhaus? Oder würde er den Abend in der Kirche verbringen, um für die Einsamen aus seiner Gemeinde da zu sein, die vielleicht den Weg dorthin finden würden?
Ihr Handy läutete.
Sie kramte es aus der Tasche und klappte es auf. »Dr. Isles?«
»Hallo, Maura«, meldete sich ihr Kollege Abe Bristol. »Was hast du mir denn da für eine Überraschung aus dem St. Francis geschickt?«
»Ich kann diese Autopsie nicht machen, Abe.«
»Also drückst du sie mir aufs Auge – und das an Heiligabend. Sehr nett von dir.«
»Tut mir wirklich Leid. Du weißt, dass ich normalerweise nicht anderen Leuten meine Arbeit aufhalse.«
»Ist das diese Nonne? Ich hab schon von dem Fall gehört.«
»Ja. Es ist nicht dringend. Die Autopsie hat Zeit bis nach Weihnachten. Sie hat seit dem Überfall im Krankenhaus gelegen, und sie haben erst vor kurzem die Apparate abgeschaltet. Es wurde ein umfangreicher neurochirurgischer Eingriff durchgeführt.«
»Eine intrakranielle Untersuchung dürfte also wenig bringen.«
»Nein, die postoperativen V eränderungen würden das Ergebnis verfälschen.«
»Todesursache?«
»Sie war nach einem Myokardinfarkt vor zwei Tagen ins Koma gefallen. Da ich ja mit dem Fall vertraut bin, habe ich die Vorarbeiten schon mal erledigt. Ich habe eine Kopie der Patientenakte, die bringe ich übermorgen mit.«
»Dürfte ich fragen, wieso du das nicht übernehmen willst?«
»Ich denke, mein Name sollte besser nicht in dem Bericht erscheinen.«
»Warum?« Sie schwieg. »Maura, warum gibst du den Fall ab?«
»Aus persönlichen Gründen.«
»Kanntest du die Patientin?«
»Nein.«
»Was ist es dann?«
»Ich kenne einen der Tatverdächtigen«, antwortete sie. »Ich war mit ihm verheiratet.«
Sie beendete das Gespräch, warf das Handy auf den Beifahrersitz und konzentrierte sich auf die Fahrt. Auf den Rückzug in die Sicherheit ihres Heims.
Schneeflocken, so dick wie Wattebäusche, fielen vom Himmel, als sie in ihre Straße einbog. Es war eine verwunschene Kulisse, die sich ihr bot, der dichte Vorhang aus Flocken, die silbrig glänzende Schneedecke auf Vorgärten und Wegen. Die Stille einer heiligen Nacht.
Sie schaltete das Gasfeuer im Kamin ein und kochte sich ein frugales Mahl, bestehend aus Tomatensuppe und überbackenem Käsetoast. Nachdem sie sich noch ein Glas Rotwein eingeschenkt hatte, trug sie alles ins Wohnzimmer, wo die Lichter am Baum immer noch funkelten. Aber noch nicht einmal diese kleine Mahlzeit brachte sie hinunter. Sie schob das Tablett von sich und trank den letzten Schluck Wein, während sie versonnen ins Feuer starrte. Sie musste gegen die Versuchung ankämpfen, nach dem Telefonhörer zu greifen und Victor anzurufen. Hatte er seine Maschine nach San Francisco noch erreicht? Sie wusste nicht einmal, wo er heute Abend war, geschweige denn, was sie ihm sagen würde. Wir haben einander verraten, dachte sie; das kann keine Liebe der Welt überleben.
Sie stand auf, schaltete das Licht aus und ging zu Bett.
21
In dem großen Topf auf dem Herd köchelte die Kalbfleischsauce schon seit zwei Stunden vor sich hin, und das Aroma von Kirschtomaten, Knoblauch und zartem Schmorfleisch
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