Töchter auf Zeit
dürfte sie während der Mitternachtsmesse essen.«
»Das hätte sie dir niemals erlaubt«, sagte Claire. »Du musst sie heimlich in deine Tasche gestopft und in die Kirche hineingeschmuggelt haben.«
Ich ließ meinen Blick über die drei Baumwipfel schweifen, vergrub meine Hände tief in den Taschen meines Sweatshirts und konnte förmlich spüren, wie Mom mich bei der Hand nahm. »Wir waren damals eine ganz normale Familie, oder?«
»Wir hatten eine schöne Kindheit«, sagte Claire, doch mehr wollte sie offenbar nicht einräumen, denn sie fuhr fort: »Aber wir haben ja keine Ahnung, was Mom die ganze Zeit durchgemacht hat. Sie hat immer so getan, als ginge es ihr gut, aber tief in ihrem Inneren war sie bestimmt kreuzunglücklich.«
Ich grub Löcher in die Erde, die sich locker und krümelig anfühlte, fast wie ein Cupcake, der auseinanderbröselte. Die Erde hier war nicht zu vergleichen mit der rötlichen schweren Muttererde, mit der ich es in meinem Hinterhof zu tun hatte. Schüttete der Friedhofsgärtner eine Schicht lockere Erde rund um die Grabsteine, um es den leidgeprüften Angehörigen einfacher zu machen? Ich fragte mich, ob das die wahre Bedeutung der Werbesprüche für Pflanzenerde war:
Lockere Erde! Kinderleichtes Einpflanzen!
Als wir mit unserer Arbeit fertig waren, betrachteten wir unser Werk: Auf beiden Seiten der Steintafel gab es Narzissen und der riesige Blumenstrauß berührte den jetzt blitzblank geschrubbten Grabstein. Claire und ich traten einen Schritt zurück.
»Wir lieben dich«, sagte ich für uns beide.
»Alles Liebe zum Muttertag«, fügte Claire hinzu.
»Ich wünsche dir auch alles Gute zum Muttertag, Claire«, sagte ich und umarmte sie.
»Dir auch einen schönen Fast-Muttertag, kleine Schwester. Ich habe etwas für dich.« Mit diesen Worten zog sie ein dickes Bündel Briefe aus ihrer Tasche, die mit einer hübschen Schleife zusammengebunden waren.
»Was sind das für Briefe?«, fragte ich sie, obwohl ich es wusste.
»Du hast sie mir geschrieben, als du noch zur Schule gingst, und ein paar stammen von deinen Reisen.«
»Und du hast sie alle aufgehoben.« Auf meinen Armen zeigte sich eine Gänsehaut.
»Sie sind wunderbar, Helen. Sie waren mir unglaublich wichtig. Jeden Tag bin ich morgens zum Briefkasten gelaufen und hoffte, dass wieder einer da wäre. Irgendwie hast du mir damit das Gefühl gegeben, ich wäre bei deinen Abenteuern an deiner Seite. In jedem Brief konnte man deine Lebenslust spüren und wie glücklich du damals warst.«
»Du meine Güte, Claire«, sagte ich fast schon peinlich berührt von ihrer Sentimentalität.
»Ich dachte, du würdest sie vielleicht mal lesen wollen. Damit du siehst, wie du damals drauf warst. Oder einfach nur so!«, sagte sie und bemühte sich um einen lockeren Ton.
»Vielen Dank, Claire. Vielen Dank!« Ich drückte sie eng an mich und atmete den Duft ihres teuren Rosmarinshampoos ein.
Ein paar Minuten später drehten wir uns um und gingen den Hügel hinab. Ich warf nur einmal einen Blick zurück und sah, dass der beeindruckende Blumenstrauß bereits zur Seite gekippt war. Ich schlang meinen Arm um Claire und deutete auf ihr Auto in der Hoffnung, dass sie nicht auch zurückblicken und sehen würde, dass selbst der kräftigste Strauß unter seinem eigenen Gewicht zusammenbrechen kann.
In dem von der Sonne aufgeheizten Auto zog ich den obersten Briefumschlag aus dem Stapel. Ich konnte mich noch erinnern, ihr meine ersten Zeilen auf den Innenseiten einer Karte geschrieben zu haben, die ich an einem Straßenstand gekauft hatte und die eine typische Pariser Szene zeigte: Pärchen, die am von Bäumen gesäumten Ufer der Seine entlang spazieren gingen, im Hintergrund Notre-Dame und eine der wunderschönen Brücken, die den Fluss überspannten. Ich begann, den Text zu lesen.
»Lies vor«, bat mich Claire.
Liebe Claire,
ich habe es mir jetzt in dem kleinen Schlösschen gemütlich gemacht, das zur Kochschule gehört – so ein Studentenwohnheim ist echt unglaublich! Ich koche den ganzen Tag, und am Abend sitzen wir – eine kleine Gruppe Azubis, mittlerweile gute Freunde – alle auf der Veranda des Haupthauses und schauen auf den Hang direkt davor, der ganz mit Lavendel bedeckt ist. Nicht zu vergessen das Glas köstlichen Beaujolais, das wir uns allabendlich gönnen. Du kannst dir unseren bunt zusammengewürfelten Haufen gar nicht vorstellen – jeder kommt aus einem anderen Fleckchen dieser Welt. Wir kommunizieren mit Händen und
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