Töchter auf Zeit
Wartezeit gewesen war, bis die Einwanderungsbehörde endlich ihr Okay gegeben hatte. Ihr Redeschwall schien kein Ende zu nehmen. Haarklein schilderte sie, dass Dannys Fingerabdrücke mit denen eines Kleinkriminellen verwechselt worden waren, der zu der Zeit aber in Georgia im Knast saß. Und was es für ein Akt gewesen sei, diesen Eintrag wieder aus Dannys Akte zu löschen.
Irgendwann im Laufe des Abends hörte ich ihr einfach nicht mehr zu und gab mich meinen Gedanken hin. Ich versuchte, mirein kleines chinesisches Mädchen vorzustellen, das mit anderen Kindern in ihrem Alter in einem Kinderbettchen liegt und an den Gitterstäben rüttelt. Wie würde es sein, ein Baby im Arm zu halten, das diese Erfahrung noch nie gemacht hatte, weil es keine Eltern gab, die es abgöttisch liebten? Ich dachte an Maura, wie sehr sie nach ihrer Geburt willkommen geheißen wurde, wie ihre Mutter sie an ihre Brust gedrückt hatte, eingehüllt in eine weiche Decke. Und das hatte bei Gott nichts mit dem Szenario zu tun, das Tim entwarf: Wie toll es doch sei, ein Kind zu adoptieren, das … wo noch mal geboren worden war? In China – auf dem schmutzigen Boden einer Hütte mitten auf dem Land. Und ihre Eltern hatten wohl entsetzt den Kopf geschüttelt, als sie sahen, dass es ein Mädchen war. In einem alten chinesischen Sprichwort heißt es, dass Frauen wie Gras sind, »dazu gemacht, darauf herumzutrampeln«. Es war ja nicht so, als hätte ich
Die gute Erde von
Pearl S. Buck oder sämtliche Romane von Amy Tan nicht gelesen. Ich wusste, wie Mädchen und Frauen in China behandelt wurden. Ich wusste, dass nur die Glücklichen unter den ganzen Babys von ihren Eltern in belebten Straßen oder vor dem Waisenhaus ausgesetzt wurden.
»Kinder sind ein unbeschriebenes Blatt«, hatte Claire immer und immer wieder gesagt. Doch wenn ich umschwenkte und einer Adoption zustimmte, würden wir alles andere als ein unbeschriebenes Blatt in unseren Armen halten. Nach einem Jahr im Waisenhaus war dieses unbeschriebene Blatt nicht mehr unbeschrieben, vielmehr war es angerissen oder es fehlte eine Ecke oder es war ganz kaputt. Ganz zu schweigen von der pränatalen Fürsorge, sofern dies für die Mutter überhaupt möglich gewesen war. Vielleicht hatte sie geraucht, gesoffen, Drogen genommen, sich schlecht ernährt oder war krank gewesen – wer weiß, was das werdende Kind im Mutterleib über neun Monate hatte mitmachen müssen, mal abgesehen von den darauffolgenden Monaten.
Ein Baby wie Maura badete in der Liebe seiner Eltern, die sich nichts sehnlicher auf dieser Welt gewünscht hatten als ein eigenes Kind. Und ich sollte mir überlegen, meine Liebe einem Kind zu schenken, das meine Gefühle vielleicht gar nicht erwidern würde. Natürlich war mir voll bewusst, dass Eltern zu sein bedeutet, selbstlos zu sein, seine Bedürfnisse zurückzustecken, sich stattdessen um die des Babys zu kümmern und keine Gegenleistung zu erwarten. Aber ich war nicht bereit, mich von vornherein für ein schlechtes Geschäft zu entscheiden. Ich wollte all das, was Maura Claire gab: ein strahlendes Lächeln, uneingeschränkte Aufmerksamkeit und samtweiche feuchte Küsschen. Ich war nicht so stark wie die Familien, über die im Fernsehen berichtet worden war, die mir nichts, dir nichts zehn Sorgenkinder adoptierten und Lob und Anerkennung für diese Leistung abtaten, als wäre das selbstverständlich oder ein Kinderspiel. Ich zog meinen Hut vor solchen Eltern, aber das war nicht ich. Ich musste einsehen, dass ich hier an meine persönlichen Grenzen stieß.
Ich wollte eine Tochter, die meine Liebe erwiderte.
Die Sache ist die
, würde ich meiner künftigen Tochter erklären.
Ich werde dich so sehr lieben, wie du es dir nicht vorstellen kannst. Wahrscheinlich weißt du gar nicht, was du mit so viel Liebe anfangen sollst. Aber es ist verdammt wichtig, essenziell für mich, dass du mich auch liebst. Schließlich sind wir gleich: Auch ich habe ein Loch im Herzen. Ich werde alles tun, um dein Loch im Herzen zu füllen, aber ich rechne damit, dass du das auch für mich tust. Abgemacht? Kleiner-Finger-Schwur?
Doch was, wenn die Antwort Nein lautet? Oder vielleicht? Oder nicht jetzt? Oder vielleicht in zwei Jahren? Oder gar niemals? Was, wenn nichts auf dieser Welt den Schaden an der Seele des Kindes wiedergutmachen könnte, das ich adoptieren sollte? Was wäre, wenn die Trennung von der leiblichen Mutter dazu geführt hatte, dass es niemandem mehr vertrauen konnte?Wer war ich
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