Toechter Aus Shanghai
habe.«
»Aber früher durften wir immer Radio hören!« Als ich dennoch den Kopf schüttele, wendet sich Joy hilfesuchend an ihren Vater. »Dad?«
Sam schaut nicht einmal auf. »Du hast gehört, was deine Mutter gesagt hat.«
Joy stellt das Radio aus, geht zum Tisch und lässt sich neben Hazel auf den Stuhl fallen. Joy ist ein gehorsames Kind, und dafür bin ich dankbar, denn die letzten vier Monate waren schwierig. Ich bin deutlich moderner als viele andere Mütter in Chinatown, aber nicht annähernd so modern, wie Joy mich gerne hätte. Ich habe ihr gesagt, dass sie bald Besuch von der kleinen roten Schwester bekommt und was das in Bezug auf Jungen bedeutet, finde jedoch einfach keinen Ansatzpunkt, um mit ihr über diesen neuen Krieg zu sprechen.
May kommt in die Küche gerauscht. Sie gibt Joy einen Kuss, tätschelt Hazel die Schulter und setzt sich den beiden gegenüber.
»Wie geht’s meinen beiden Süßen?«, fragt sie.
»Uns geht’s gut, Tante May«, erwidert Joy mürrisch.
»Das klingt aber nicht gerade begeistert. Kopf hoch! Es ist Samstag! Der Chinesischunterricht ist geschafft, den Rest des Wochenendes habt ihr frei! Worauf habt ihr Lust? Kann ich euch beide ins Kino einladen?« »Dürfen wir, Mom?«, fragt Joy gespannt.
Hazel ist deutlich anzusehen, dass sie den Nachmittag nur zu gerne im Kino verbringen würde, aber sie sagt: »Ich kann nicht. Ich muss Hausaufgaben machen.«
»Und Joy ebenfalls«, ergänze ich.
May fügt sich ohne Murren. »Dann fangt ihr besser schnell damit an.«
Seit dem Tod meines Sohnes stehen meine Schwester und ich uns sehr nahe. Wie Mama gesagt hätte, wir sind wie zwei lange Reben mit ineinander verwachsenen Wurzeln. Wenn ich unten bin, ist May oben. Wenn ich oben bin, ist sie unten. Wenn ich zunehme, nimmt sie ab. Wenn ich abnehme, bleibt sie so perfekt wie immer. Wir empfinden nicht immer unbedingt dasselbe und sehen vieles unterschiedlich, aber ich liebe sie genau so, wie sie ist. Mein Groll gegen sie ist fort - zumindest bis sie mich das nächste Mal verletzt oder ich etwas tue, das sie ärgert oder so enttäuscht, dass sie sich von mir zurückzieht.
»Ich kann euch helfen, wenn ihr wollt«, sagt May zu den Mädchen. »Wenn wir schnell fertig sind, können wir vielleicht noch ein Eis essen gehen.«
Mit strahlenden Augen sieht mich Joy fragend an.
»Aber erst, wenn ihr mit den Hausaufgaben fertig seid.«
May stützt die Ellenbogen auf den Tisch. »Und, was habt ihr auf? Mathe? Das kann ich ziemlich gut.«
Joy antwortet: »Wir müssen vor der Klasse ein aktuelles Ereignis vorstellen...«
»Über den Krieg«, beendet Hazel ihren Satz.
Jetzt bekomme ich wirklich Kopfschmerzen. Warum kann die Lehrerin nicht etwas feinfühliger mit diesem Thema umgehen?
Joy öffnet ihre Tasche, holt eine zusammengefaltete Los Angeles Times heraus und breitet sie auf dem Tisch aus. Sie weist auf einen Artikel. »Wir haben uns gedacht, wir nehmen den hier.«
May überfliegt den Beitrag und liest ihn dann laut vor: »Heute gab die Regierung der Vereinigten Staaten eine Anordnung bekannt, nach der es chinesischen Studenten in Amerika untersagt
ist, in ihr Heimatland zurückzukehren, weil sie wissenschaftliche oder technische Geheimnisse mitnehmen könnten.« May hält inne, wirft mir einen kurzen Blick zu und liest weiter: »Außerdem hat die Regierung alle Überweisungen auf das chinesische Festland und selbst an die britische Kolonie Hongkong untersagt, damit nicht länger Geld zu Fuß über die Grenze getragen werden kann. Wer bei dem Versuch ertappt wird, Geld an Verwandte in China zu schicken, wird mit einer Strafe von bis zu 10 000 Dollar und bis zu zehn Jahren Haft belegt.«
Ich taste nach Betsys Brief in meiner Tasche. Wenn es schon für jemanden wie Mr. Howell gefährlich wird, könnte es für Menschen wie Vater Louie, der seit Jahren Teegeld an seine Familie und Dörfer in China schickt, noch viel schlimmer ausgehen.
»Als Reaktion darauf«, höre ich May weiterlesen, »hat Six Companies, die einflussreichste chinesisch-amerikanische Organisation in den USA, eine ausdrücklich antikommunistische Kampagne ausgerufen in der Hoffnung, der Kritik und den Angriffen in chinesischen Wohnvierteln im ganzen Land entgegenzusteuern.« May schaut von der Zeitung auf und fragt: »Habt ihr Angst, Mädchen?« Als die beiden nicken, sagt sie: »Das braucht ihr nicht. Ihr seid hier geboren. Ihr seid Amerikanerinnen. Ihr habt jedes Recht, hier zu sein. Ihr braucht keine Angst zu
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