Toedliche Blumen
Bindungen oder andere Kontakte unterschiedlichster Art.
Kein Mensch ist ein Einsiedler. Nicht einmal der, der sich so fühlt.
Louise Jasinski ging zur Rezeption, um zu bezahlen. Vor ihr in der Schlange stand ein Mann mit einem eingegipsten Unterarm. Als sie an die Reihe kam, legte sie ihre Patientenkarte auf den Tresen.
Die junge Frau an der Kasse kam ihr irgendwie bekannt vor. Im Hinblick auf ihr Anliegen war sie jedoch nicht zu mehr gewillt, als ihr kurz zuzunicken. Sie schob den Fünfhundertkronenschein durch die Luke und nahm das Wechselgeld entgegen. Die Frau hinter der Glaswand informierte sie mit einem Lächeln darüber, dass sie in den ersten Stock fahren und dann geradeaus durch eine Tür gehen musste. Louise brachte ansatzweise ein Lächeln zustande, während ihr flüchtig durch den Kopf schoss, dass sie mit ihrem Vorhaben in eine andere Stadt hätte fahren sollen. Die Schweigepflicht hatte ihre Grenzen und war noch nie wasserdicht gewesen, würde es auch nie werden, wie viele Gesetze und Vorschriften man auch immer erlassen würde. Das wusste sie. Der Mensch war, wie sie auch, von Natur aus neugierig. Eigentlich war es auch nicht weiter verwunderlich, dachte sie. Man musste eben selber vorbeugen.
Die Wegweiser hingen klar und deutlich von der Decke herab. Sie fand es unnötig, den Fahrstuhl zu nehmen, also entschied sie sich für die Treppe. Gerade als sie die erste Stufe erklimmen wollte, sah sie einen Mann aus einem der Fahrstühle treten und mit zugeknöpfter Jacke auf die Eingangstür zusteuern.
Kjell E. Johansson. Was führte ihn denn hierher? Augenblicklich erwachte die Polizistin in ihr. Ihr eigener Termin veranlasste sie jedoch dazu, nicht zum Handy zu greifen und Peter und Erika anzurufen, um sie zu bitten, den Mann in der Eingangshalle aufzugreifen oder ihn zu beschatten. Sie wollte nicht unbedingt preisgeben, wo sie selbst sich gerade aufhielt.
Im Wartezimmer saßen drei Frauen mit ernsten Gesichtern über halb zerfledderte Wochenzeitschriften gebeugt. Als sie eintrat, schauten alle drei wie auf Kommando von ihrer Lektüre auf. Und alle drei gingen wie synchronisierte Puppen wieder dazu über, in ihren Zeitschriften zu blättern, als sie sich hingesetzt hatte. Louise kannte keine von ihnen.
Sie vermochte nicht, sich auf ihre Lektüre zu konzentrieren. Die Worte standen schwarz und unbeweglich vor ihren Augen. Sie blätterte zerstreut in dem abgegriffenen Exemplar, das in ihrem Schoß lag. Dann wurde sie aufgerufen.
Die Ärztin war zwischen fünfunddreißig und vierzig und hieß Irma. So viel hatte sie behalten, ihr Nachname hingegen war ihr sofort wieder entfallen. Sobald sie das Behandlungszimmer betrat, wurden ihre Handflächen feucht, und die Übelkeit überfiel sie. Sie stand unmittelbar vor einer der Situationen in ihrem Leben, in der sie sich wünschte, die Zeit vorstellen zu können, sodass alles bereits überstanden wäre.
»Ich werde Sie nicht fragen, warum Sie diesen Beschluss gefasst haben«, klärte sie die Ärztin einleitend auf und klang dabei weder böse noch kritisch. »Wir haben freies Recht auf Abtreibung in Schweden. Nichtsdestotrotz möchte ich Sie aber darauf hinweisen, dass Sie die Möglichkeit wahrnehmen können, einen Seelsorger zu sprechen.«
Sie hielt ihr eine Visitenkarte hin.
»Nein, danke, die benötige ich nicht«, antwortete Louise und legte die Karte zurück auf den Tisch.
»Behalten Sie sie nur. Man kann nie wissen!«, lächelte die Ärztin. »Auch wenn Sie sich bereits entschieden haben, können die Gefühle gemischt sein. Das ist völlig normal.«
Louise wurde gefragt, wie viele Kinder sie hatte, ob sie gesund war und ob sie schon vorher in ihrem Leben eine Abtreibung hatte vornehmen lassen.
»Nein«, antwortete sie.
»An was für Verhütungsmittel haben Sie gedacht?«
»An keine«, entgegnete sie. »Wir leben in Scheidung.«
Die Ärztin betrachtete sie mit einem ruhigen Blick aus ihren braunen Augen.
»Aber es kann doch passieren, dass man einander vermisst, auch wenn man in Scheidung lebt und … tja, ganz einfach im Bett landet, auch wenn es nicht beabsichtigt ist.«
Louise verstand, dass die Ärztin schon öfter mit solchen Fällen konfrontiert worden war. Ganz so bizarr war also ihre Situation gar nicht.
Nicht eine Andeutung einer Verurteilung bestimmte das Klima im Raum, aber auch keine Gleichgültigkeit, und das erleichterte es Louise, ihren Unterkörper frei zu machen, sich auf den Behandlungsstuhl zu begeben und ihre Beine auf
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