Tödliche Mitgift
sie das gemerkt?« Pia nahm die Füße wieder herunter und richtete sich in ihrem Stuhl auf.
Walther Hartlieb am anderen Ende der Leitung räusperte sich. »Sie sagt, es roch auf einmal anders in der Wohnung. Nach einem Parfüm – sie konnte sogar den Namen nennen.«
»Fehlte irgendetwas? Gab es sonstige Anzeichen für einen Einbruch?«
»Etwas scheint seither nicht mehr an seinem Platz zu liegen.«
»Das ist ziemlich vage …«
»Nicht wahr? Außerdem soll an dem Tag, als jemand in Löwgens Wohnung eingedrungen ist, eine Freundin von Löwgen bei Frau Winkler geklingelt und nach einem Päckchen für Löwgen gefragt haben, das aus Italien eingetroffen sein sollte.«
»Gab es ein solches Päckchen? Kann Frau Winkler sagen, wer die Frau war? Haben Sie eine Beschreibung von ihr?«
»Nein. Nicht in unserem Sinne. Und angeblich war sowieso kein Päckchen für Löwgen angekommen. Nur ein paar dünne Briefe in Standardformat wie Rechnungen und die üblichen Reklamezettel. Frau Winkler war nach dem Vorfall beunruhigt, konnte sich aber nicht entschließen, sofort die Polizei zu verständigen.«
»Ich würde gern selbst mit Frau Winkler sprechen«, erwiderte Pia, die inzwischen unruhig mit ihrem Stuhl hin und her rollte.
»Wir können ihr zusammen einen Besuch abstatten, den Termin klemme ich noch irgendwo dazwischen«, schlug Hartlieb bereitwillig vor.
»Ich komme morgen gegen zehn Uhr zu Ihnen ins Präsidium, und wir fahren zusammen zu Löwgens Haus. Ist das okay?«
»Moment, ich schau nach … Ja, das geht klar.«
»Bis morgen, dann.«
»Eine Sache noch. Wegen der Personenbeschreibung …«, wandte Hartlieb mit einer leichten Verzögerung ein.
»Ja?«
»Die Beschreibung wird anders ausfallen, als Sie es erwarten.«
»Ich habe keine spezielle Erwartung.«
»Esther Winkler wird uns nicht sagen können, wie die Frau aussah.«
»Ach ja?«
»Frau Winkler ist blind.«
6. Kapitel
V or der kleinen Landpartie in Richtung Ratzeburg am nächsten Morgen stand noch das Gespräch mit Bianca Nowak an. Pia versuchte, sichinnerlich darauf einzustellen, wieder die Nachricht vom mutmaßlichen Tod Annegret Dreylings überbringen zu müssen. Solche Aufgaben waren immer nervenaufreibend, manchmal laugten sie Pia emotional regelrecht aus. Und dieses Mal ging es darum, einer Mutter die Nachricht vom mutmaßlichen Tod ihres Kindes mitzuteilen, was dem Ganzen eine zusätzliche Brisanz verlieh. Wichtig war, hatte ihr Ausbilder ihr damals eingetrichtert, niemals zu großes Mitgefühl oder gar Schuldgefühle dem Angehörigen gegenüber zu entwickeln. Wenn man damit anfing, konnte man bei der Polizei gleich einpacken. Übertriebenes Mitgefühl schadete einem selbst und nutzte niemandem. »Du bist nur die Projektionsfläche und niemals persönlich gemeint, wenn du angeklagt oder angegriffen wirst«, rief sie sich in Erinnerung. Eine letzte Unsicherheit blieb bei aller Theorie vor einem solchen Termin trotzdem bestehen.
Pia fuhr die Geniner Straße hinunter und hielt sich dann rechts in Richtung des Stadtteils Buntekuh, während sie sich fragte, wie das Gespräch mit Annegret Dreylings Mutter verlaufen und was für einem Menschen sie wohl gleich gegenüberstehen würde. Der Himmel war bedeckt, und der feine Sprühregen, der den ganzen Tag über fast unablässig niedergegangen war, hatte Asphalt, Plattenwege und die Fassaden der Hochhäuser dunkel gefärbt. Pia stellte ihren Wagen direkt an der Straße unter ein paar ums Überleben kämpfenden Bäumen ab. Auf dem Weg zu der angegebenen Hausnummer kam sie an einer mit Moos bewachsenen Zufahrt vorbei, die in ein tiefschwarzes Viereck mündete, das zu einem unterirdischen Parkdeck führte. Die Eingangstür des Hauses, auf das Pia nun zusteuerte, war in einem optimistischen Gelb gestrichen und stellte zusammen mit den grünen Glascontainern und roten Zufahrtssperren die einzigen Farbtupfer in der näheren Umgebung dar. Pia suchte ein paar Minuten auf der Tafel mit den Namensschildern, bis sie die richtige Klingel gefunden hatte.
Die Tür sprang summend auf, und Pia betrat eine leere Eingangshalle. Sie fuhr im Fahrstuhl in den sechsten Stock und klingelte nochmals, dieses Mal an der Wohnungstür, die jemand mit geschmackvollen Aufklebern mit rammelnden Playboy-Häs chen verziert hatte. Es dauerte ein paar Sekunden, bis auf ihr erneutes Läuten eine Reaktion erfolgte. Zeit genug, ein Stillleben auf dem Treppenabsatz zu betrachten, das aus mehreren Kartons, einem wackeligen Schuhregal und
Weitere Kostenlose Bücher