Toedliche Offenbarung
Flöhe hüten ist einfacher, hätte seine Mutter gesagt.
»Ach, du weißt, wie der heißt?« Ein ärgerlicher Unterton mischt sich in Marthas Stimme. »Das hättest du mir ja mal früher sagen können, dann hätte ich ihn nicht mit ein paar gezielten Schüssen aus der Reserve locken müssen.«
»Du hast auf ihn geschossen?« Wenn man nicht ständig auf sie aufpasst, gerät sie von einer brenzligen Situation in die nächste.
»Das war bildlich gesprochen. Frag doch nicht so blöd! Als wenn ich eine Pistole hätte.« Warum können Männer sich nicht einfach mal einfühlen? »Der Mann ist der Herbert Müller aus dem Tagebuch. Der mit dem Blutschwamm. Muss ich noch mehr sagen?«
»Nein.« Er hätte Rischmüllers Mail schneller lesen müssen. Vor allem hätte er schneller handeln müssen. »Und dann?«, drängelt er. Unruhe befällt Beckmann.
»Als ich ihm die Brocken mit Clara vor die Füße geworfen habe, stürzte der sich auf mich, frag nicht nach, mit welcher Wucht. Der geriet völlig außer Kontrolle.« Martha zögert kurz. »Ich hätte nie geglaubt, dass so ein alter Mann noch so viel Kraft aufbringen kann.«
Vielleicht hätte sie sich dann diesen Vorstoß im Alleingang auch nicht getraut. Wahrscheinlich sogar nicht. Bei diesem Gedanken reibt Martha sich die Hämatome am Hals. Sie sind mittlerweile dunkelviolett verfärbt, und ihre Kehle schmerzt beim Schlucken. Dann setzt sie ihren Bericht fort.
Beckmann glaubt seinen Ohren nicht zu trauen, als Martha vom Kampf mit Müller erzählt. Verdammt, warum hatte er Rischmüllers Mail nicht eher gelesen, hämmert es immerzu in Beckmanns Kopf, während Martha die dramatische Beschreibung der Eskalation abkürzt und mit den Worten endet: »Bei dem sind alle Sicherungen durchgeglüht. Trixi hat sich dann diesen Adler geschnappt, so einen, der auf dem Granitsockel steht. Sie hat ihn hochgehoben und auf Müller fallen gelassen.«
Das Krachen hat Martha immer noch im Ohr, auch das Splittern seiner Knochen.
»Müller hat einmal laut aufgeschrien und ist dann zu Boden gesunken. Er hat geblutet wie ein Schwein, aber er lebt. Der Krankenwagen hat ihn eben abgeholt, und deine Kollegen aus Celle nehmen jetzt das Protokoll auf.«
Was um Himmels Willen macht diese Frau? Warum begibt sie sich in solche Gefahren? Beckmann weiß nicht, ob er zornig oder besorgt sein soll. Oder beides. Weiß sie denn nicht, dass sie das Wichtigste in seinem Leben ist?
»Bist du verletzt?«
»Nein, es ist alles in Ordnung bei mir.«
»Wie kannst du da nur alleine hingehen, Wenn ich mir vorstelle, was hätte passieren können …«
»Erstens hat Mittenwald mich dahin geschickt, zweitens wusste ich ja nicht, dass der Mäzen der »Aufrechten Deutschen« und dieser Herbert Müller eine Person sind – und außerdem war Trixi doch mit dabei«, unterbricht sie ihn und wiegelt ab. »Uns ist ja eigentlich auch nichts passiert!«
»Wie konnte Mittenwald das nur machen?«
»Habe ich doch eben schon gesagt. Der wusste nicht, dass das ein und dieselbe Person ist. Genauso wenig wie ich. Im Unterschied zu dir. Du scheinst ja bestens informiert gewesen zu sein.«
»Aber erst seit ein paar Minuten. Hätte ich gewusst, dass du zu ihm hinfährst …« Was sollte diese Erbsenzählerei jetzt im Nachhinein? Beckmann fühlt eine wachsende innere Unruhe in sich. Vielleicht sollte er ihr einfach sagen, dass er ohne sie nicht mehr leben will. Dass er es nicht ertragen kann, dass sie sich in Gefahr begibt. Beckmann bricht der Schweiß aus. Hat diese Frau überhaupt eine Ahnung, was alles hätte passieren können? Stattdessen sagt er: »Wo bist du? Ich komme sofort.«
32
Die Krankenschwester springt zur Seite, als Matusch mit dem Messer in der Hand aus dem Zimmer rast und schreit noch lauter. Borgfeld hastet ihm hinterher und ruft: »Benachrichtigen Sie die Polizei. Dringend.«
Borgfeld rennt, überspringt Treppenstufen, stößt sich an Ecken – kann aber das Tempo des Flüchtenden trotzdem nicht mithalten. Der Rücken mit der 88 verschwindet in Höhe des Geschenklädchens aus seinem Blickfeld. Als Borgfeld außer Atem auf dem Parkplatz vor dem Krankenhaus ankommt, ist von dem Jungen nichts mehr zu sehen. Enttäuscht gesteht Borgfeld sich ein, dass ihm die sportlichen Bemühungen der letzten Wochen keine nennenswert bessere Kondition beschert haben.
Verdammt, wo ist der Kerl? Er muss doch mit dem Auto durch die Schranke fahren, sagt sich Borgfeld immer wieder.
Seine Augen gleiten über die Parkbuchten.
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