Toedliches Verlangen
eigene Leben.
Sie hatte keine andere Wahl. Rennen und Beten.
Der Atem rasselte in ihren Lungen, sie konnte kaum sprechen: »Vater unser im Himmel, geheiligt werde Dein Name …«
Sie dachte sich den Rest, wusste, Gott würde sie verstehen.
Mit gesenktem Kopf, den kleinen Engel fest im Arm, rannte sie, so schnell sie konnte, den Blick fest auf ihr Ziel geheftet. Ihre Schlüssel lagen in der Mittelkonsole. Die musste sie nur erreichen. Mit aller Macht visualisierte sie ihr Entkommen … stellte sich vor, wie sie den Schlüssel ins Zündschloss steckte und davonfuhr. Die Zeit verlangsamte sich, sie nahm die Umgebung in seltsam verzerrten Wellen wahr, wie Geräusche unter Wasser: der schwarze Rauch, die Kälte, vermischt mit dem Gestank des brennenden Gummis, das rutschige Gras unter ihren Schuhen.
Noch zwanzig Meter. Jetzt fünfzehn. Bitte, lieber Gott, mach, dass ich es schaffe. Hilf mir, ihn zu beschützen.
»Verdammt.« Ein Stück rechts hinter ihr ertönte ein Knurren.
O nein. Nein, nein, nein. Bastian hatte sie entdeckt und sich an ihre Fersen geheftet.
Ein Schluchzen stieg in ihrer Kehle auf. Sie zwang sich, schneller zu laufen, hielt das Baby mit einem Arm fest und ruderte mit dem anderen, um noch mehr Geschwindigkeit aufzunehmen. Ihr Atem ging stoßweise. Ihre Lungen brannten wie Feuer, aber sie blieb nicht stehen. So leicht würde sie es ihm nicht machen. Wenn er dachte, sie würde sich hinlegen, zusammenrollen und sterben, hatte er sich getäuscht.
Er hatte sie belogen. Hatte ihr gesagt, sie könne ihm vertrauen, aber …
Er war nicht vertrauenswürdig. Bastian war einer von ihnen. Eine Bestie mit Klauen und Reißzähnen, einem Albtraum entsprungen.
Myst schlitterte um das Heck ihres Wagens. Ihre Füße schleuderten Kies auf, als sie die Kofferraumklappe packte und ihren Körper herumriss, um schneller zur Fahrertür zu gelangen. Nur noch ein paar Schritte und …
Ein seltsames Zischen durchschnitt die Luft und verwandelte sich in ein unnatürliches Dröhnen. Ihre Hand umklammerte den Türgriff. Sie blickte auf und starrte in gelbe Augen mit schmalen Pupillen. Der Braune fauchte sie an. Ein einzelnes, gezacktes Horn zierte die Mitte seiner Stirn, durch rasiermesserscharfe Zähne sog er die Luft ein. Sprachlos vor Entsetzen stand Myst da und sah, wie sich tief in seiner Kehle eine orange glühende Kugel bildete.
O Gott. Feuer.
»Myst, lauf!« Bastians Stimme erreichte sie klar und deutlich, aber Myst konnte sich nicht bewegen. Gelbe Augen hielten sie fest, ihre Beine fühlten sich an wie Gelee. »Verdammt! Rikar!«
Kalter Wind kam auf. Die klare Herbstluft trübte sich, wurde zu einer Wolke aus eisigem Nebel, fast schon Schnee. Der Eisnebel legte sich über die Kühlerhaube ihres Wagens, hüllte sie ein wie eine arktische Decke, aber es war zu spät. Der Feuerball schoss auf sie zu, sie konnte die Hitze bereits spüren, das hungrige Fauchen des Infernos rauschte in ihren Ohren. Sie würde bei lebendigem Leib verbrennen, nichts als Asche würde zurückbleiben, und sie konnte nichts dagegen tun.
Trotz ihres Vorsatzes ließ sie sich fallen, rollte sich zusammen und schützte den Säugling mit ihrem Körper. Ihr heiser geflüstertes »Es tut mir leid« war nicht annähernd genug, aber sie musste es ihm sagen. So sehr hatte sie versucht, ihn zu retten, und jetzt würden sie beide sterben.
Qualvoll. Ohne Hoffnung. Ohne die leiseste …
Eine Wand aus Eis materialisierte sich aus dem Nichts vor ihr, erhob sich als U-förmige Barriere um die Vorderseite ihres Wagens. Der dicke, unglaublich hohe Schutzwall erzitterte, als der Feuerball mit einem Krachen einschlug. Sie wurde nach hinten geschleudert. Dampf schoss in den Himmel und ließ Eissplitter als spektakuläre Wasserfontäne zu Boden prasseln. Fauchende Flammen schlugen nach dem Eis, versuchten sie zu erreichen.
Durch die durchsichtige Barriere hindurch sah sie verzerrt, wie Bastian sich in die Luft schwang. Wie ein mitternachtsblauer Blitz stürzte er sich auf den Feuer speienden Drachen. Zwei Schatten rollten ineinander verkeilt über den Erdboden. Im Mondlicht waren sie kaum voneinander zu unterscheiden. Dunkelblau gewann die Oberhand, die Klauen tief in braune Schuppen gegraben.
Seine grünen Augen leuchteten auf, fanden sie in der Dunkelheit. »Verschwinde, Myst!«
Sie folgte dem Befehl, ohne nachzudenken, kein Zögern, kein »O mein Gott« in ihrem Kopf. Ihr Geist war völlig leer, ausgebrannt, zu verstört, um noch etwas anderes zu tun,
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