Toete John Bender
Vögel schwiegen. Tom duckte sich und schlich zum Bootssteg. Je näher er kam, desto besser konnte er den Steg erkennen. Etwas lag darauf. Papier oder ein weißes Tuch? Ein Handtuch? Hinter den letzten Büschen vor dem offenliegenden Strandabschnitt verbarg er sich und spähte einige Augenblicke in die Gegend. Es blieb ruhig. Zu ruhig, wie er fand.
Er beschloss, seine Deckung aufzugeben, atmete tief durch und ging zur Brücke. Das Tuch lag an der Spitze, dort, wo man das Boot an dem Pfahl vertaute. Er näherte sich, Holzbohlen knarrten leise unter seinem Gewicht, seine Augen verengten sich zu Schlitzen. Etwas stimmte nicht. Das vermeintliche weiße Tuch wies zahlreiche rote Flecken auf. Es sah aus wie Blut. Tom stockte der Atem bei dieser Erkenntnis und er sah sich um. Auf dem Anleger stand er wie auf dem Präsentierteller. Mit zwei großen Schritten eilte er hin, griff nach dem Tuch und nahm es mit zum Strand, wo er sich sicherer fühlte.
Es war Blut! Große Flecken! Einige hatte er auch auf den verwitterten Holzplanken des Stegs gesehen. Das Tuch war ein handelsübliches Baumwolltaschentuch, etwas größer als gewöhnlich. Das Blut war frisch. Es war noch nicht geronnen und zeigte ein intensives, fast leuchtendes Rot. Mit spitzen Fingern trug Tom das Tuch zum Schuppen und ließ es neben die Tür fallen. Warum hatte ihm Jens nichts von dem Tuch erzählt? Weil er es nicht gesehen hatte? Weil das Tuch nach Jens' Rückkehr hier seinen Platz gefunden hatte? Das war das Wahrscheinlichste und bedeutete, dass derjenige, der es hier verloren oder hinterlegt hatte, noch in der Nähe sein musste.
Tom kam der Gedanke, erst einmal eine Zigarette zu rauchen. Er verdrängte ihn und betrachtete das Türschloss. Von außen sah das Vorhängeschloss intakt aus, aber als er es in die Hand nahm, öffnete sich der Bügel von allein und er konnte das Schloss abnehmen. Langsam öffnete er die Tür und spähte in den Schuppen, durch dessen einziges Fenster in der Rückwand ausreichend Licht fiel, um erkennen zu können, dass niemand darin war. Tom versuchte, sich etwas zu beruhigen, und zündete sich die Zigarette an. Beim ersten Zug schloss er die Augen und lehnte sich an die Schuppenwand. Wessen Blut war das? War Andi hier gewesen, hatte sich verletzt und war wieder zur ›Paloma‹ zurückgekehrt? Aber dann hätte er eine Nachricht hinterlassen, schätzte Tom. Was, wenn Andi nicht verletzt, sondern getötet worden wäre? Tom erschauerte bei dem Gedanken, der wie ein Tiefseeungeheuer an die Oberfläche seines Bewusstseins geschossen kam. Ihm wurde heiß, er schwitzte.
Bist du bescheuert! , schallte er sich. Don´t panic!
Jene Maxime, die er in seinen Seminaren vermittelte, missachtete er jetzt. Niemand hatte Andi getötet, alles ist gut! Beruhige dich, Tom!
Es wirkte nicht zur Gänze. Der Blick auf das blutgetränkte Tuch verhöhnte ihn. Er drückte die Zigarette aus, sah sich ein weiteres Mal prüfend um und schlüpfte dann durch die Tür in den Schuppen. Direkt am Eingang stand eine Taschenlampe auf einem Wandregal. Er tastete nach ihr … und tastete … sah genauer hin … und stellte fest, dass sie nicht dort stand. Im Zwielicht betrachtete er das Regal und jetzt fiel ihm das Chaos in dem Schuppen auf. Kartons lagen umgestürzt auf dem Boden, Werkzeuge, Dosen mit Farben und Holzlasur waren aus den Regalen gerissen und die Arbeitsplatte war leer gefegt worden. Alles, was auf ihr gestanden und gelegen hatte, verteilte sich auf dem Boden. Nur die CB-Funkanlage stand scheinbar unberührt auf ihrem Platz.
Warum? , fragte sich Tom.
Er drückte den Kippschalter, um die Anlage in Betrieb zu nehmen, aber das Leuchten der Funktionslämpchen blieb aus. Klick-klack, klick-klack, Tom wiederholte den Vorgang mehrere Male, ohne Erfolg. Er stutzte. Der Geruch, den Jens zuvor beschrieben hatte – jetzt nahm er ihn wahr. Beißend. Er hob die Funkstation an und roch an ihr. Angewidert verzog er das Gesicht und wandte sich ab. Der Geruch saß in der Funkanlage. Tom atmete aus und überlegte, doch eine Erklärung hierfür fand er nicht. Er musste das Gehäuse öffnen und suchte nach einem Mechanismus dafür. Acht kleine Kreuzschrauben hielten das Gehäuse zusammen. Tom stellte den Kasten ab und stöberte bei diffusem Licht in der Unordnung nach einem passenden Schraubenzieher. Unter einem umgekippten Karton wurde er fündig. Er löste alle Kabel und nahm die CB-Funkanlage mit nach draußen, um sie bei besseren Lichtverhältnissen
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