Töte, wenn du kannst!: Kriminalroman (German Edition)
gedacht. Inzwischen war es zu spät, um die Wahrheit zu sagen, und es wäre auch vollkommen sinnlos.
In den ersten Tagen hatte sie sich an Forsbergs Worte geklammert, der an eine Frau mit fehlgeleiteten Mutterinstinkten glaubte, die einfach nur unverschämtes Glück gehabt hatte, als es ihr gelang, Lucie unbemerkt vor der Markthalle zu entführen. Aber je mehr Zeit verging, ohne dass eine Spur von Lucie auftauchte, desto mehr zweifelte sie an dieser Theorie. Und da sie die Wahrheit nicht kannte, erfand sie für sich eine Wahrheit, die sie gerade noch ertrug: dass Lucie tot war. Dieser Gedanke war immer noch tröstlicher als der, dass Lucie womöglich ein Leben führte, wie es das österreichische Mädchen Natascha Kampusch acht Jahre lang hatte ertragen müssen, ehe sie sich im Jahr 2006, ein Jahr bevor Lucie verschwand, hatte befreien können. Dennoch konnte Tinka nicht verhindern, dass genau diese Vorstellung in all ihren grausigen Facetten zuweilen durch ihre Träume geisterte. Sie erwachte daraus in den frühen Morgenstunden mit dem Gefühl der Scham.
»Würdest du mich noch lieben, wenn ich ein Mörder wäre?«, hatte Leander sie vorhin gefragt, und sie hatte gelogen und Nein gesagt, denn sie wollte nicht, dass Leander auch nur daran dachte, sich auf die Idee dieses Wahnsinnigen einzulassen.
Camilla fand eine Anstellung in der Parfümerieabteilung eines Kaufhauses. Die Arbeit gefiel ihr, obwohl ihr abends die Füße wehtaten. Der Lohn war auch nicht üppig, aber sie hatte ja noch die restlichen vierhundert Kronen von Lillemors Unterhalt, monatlich 1200, zur Verfügung und durfte noch über ein Jahr mietfrei in Rosenlund wohnen. Alles in allem eigentlich gar nicht so schlecht, dachte sie, und sah die Zukunft wieder etwas rosiger. Sie verkehrte jetzt viel in Studentenlokalen. Ein Medizinstudent interessierte sich für sie, und Camilla sah sich schon in der Rolle der Frau des Chefarztes einer großen Klinik.
Alle drei, vier Wochen fuhr sie nach Öckerö und sah nach ihrer Tochter, hauptsächlich, weil ihre Mutter das erwartete. Ulrika brauchte jemanden, bei dem sie sich über ihr Schicksal beklagen konnte: Der Laden lief schlecht, der Mann war krank und meistens arbeitslos, und sie hatte das Kind ihrer missratenen Tochter am Hals. Camilla hörte sich das Gejammer kommentarlos an, denn sie wollte sie nicht vergrätzen. Nicht dass sie ihr das Kind wieder zurückgab.
Manchmal, wenn sie wieder wegfuhr, musste Camilla über Ulrikas Erziehungsmethoden nachdenken. Um ihr das Nägelkauen abzugewöhnen, hatte Ulrika ihr die Finger mit Chilischoten eingerieben, und es gab kein Abendessen, wenn sie beim Stricken einen Fehler machte. Andererseits – hieß es nicht immer, Großmütter wären mit ihren Enkeln sanfter und geduldiger als mit den eigenen Kindern? Jedenfalls machte das Baby bis jetzt einen munteren Eindruck. Und ihr hatte ein bisschen Strenge schließlich auch nicht geschadet. Außerdem war ja auch noch ihr Vater da. Der jedenfalls hatte sie nie geschlagen.
Grau dämmerte der Morgen herauf. Dragan fuhr mit der Kehrmaschine am Rand der Kaimauer entlang. Es musste alles sauber sein, wenn das gewaltige Schiff aus Kiel um neun Uhr ankam. Die Touristen sollten nicht gleich einen schlechten Eindruck von der Stadt bekommen. Schon zum zweiten Mal fuhr er an einem Schwarm Möwen vorbei, die sich um irgendetwas stritten, was neben der Kaimauer im Wasser schwamm. Manche der Vögel hielten etwas im Schnabel, während sie ein Stück weit wegflogen, um sich dann niederzulassen und den Bissen zu verzehren. Ein Tierkadaver? Dragan seufzte. Die Menschen warfen ja alles Mögliche ins Wasser, ob vom Land aus oder von den Schiffen. Er hatte schon etliche tote Katzen im Hafenbecken dümpeln sehen und einmal auch einen Hund. Dragan brachte seine Maschine zum Stehen, ging nachsehen, und dann drehte sich ihm der Magen um. Er blickte auf einen menschlichen Körper oder vielmehr auf das, was davon noch übrig war.
»Gsch, gsch«, machte er und wedelte mit den Armen. Doch die gierigen Vögel ließen sich nicht so leicht verscheuchen, im Gegenteil: Ein paar flogen angriffslustig über seinen Kopf hinweg, sodass Dragan den Luftzug ihres Flügelschlags spüren konnte. Dabei stießen sie schrille, aggressive Rufe aus, bereit, ihre Beute zu verteidigen. Dragan hielt die Arme schützend über den Kopf, noch immer schockiert vom Anblick der Leiche. Hatten diese grässlichen Viecher dem Menschen, der da schwamm, den Kopf abgetrennt? Jetzt
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