Tokio Killer - 02 - Die Rache
einfach nur jung aus.
Ich bahnte mir einen Weg zu Midori. Sie sah mich kommen, machte aber keine Anstalten, mich zu begrüßen.
Sie trug einen schwarzen, Figur betonenden, ärmellosen Rollkragenpullover, der aussah wie aus leichter Kaschmirwolle, und der Kontrast ließ ihr Gesicht und ihre Arme noch heller wirken. Sie lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück, und ich sah eine weiche, abgetragene Lederhose und hochhackige Stiefel. Abgesehen von einem Paar Diamantohrringen trug sie keinerlei Schmuck. Es hatte mir schon immer gefallen, dass sie mit Make-up und Schmuck sparsam umging. Sie brauchte beides nicht.
«Ich habe eigentlich nicht mit dir gerechnet», sagte sie.
Ich beugte mich vor, damit sie mich trotz der Musik verstehen konnte. «Hast du gedacht, ich bekomme deine Nachricht nicht?»
Sie hob eine Braue. «Ich habe gedacht, du würdest dich nicht blicken lassen, wenn ich Zeit und Ort bestimme.»
Sie lernte schnell. Ich zuckte die Achseln. «Da bin ich.»
Es war kein Sitzplatz mehr frei, daher stand sie auf, und wir lehnten uns so an die Wand, dass unsere Schultern sich nicht ganz berührten. Sie nahm ihren Drink mit.
«Was trinkst du da?», fragte ich.
«Ardbeg. Den habe ich durch dich kennen gelernt, weißt du noch? Jetzt schmeckt er nach dir.»
«Dann wundert es mich, dass du ihn noch genießen kannst.»
Sie warf mir einen Seitenblick zu. «Es ist ein bittersüßer Geschmack», sagte sie.
Eine Kellnerin kam, und ich bestellte mir auch einen Ardbeg. Wir hörten Toku zu, der über Trauer, Einsamkeit und Reue sang. Das Publikum war hingerissen.
Als das Set vorbei war und der Applaus verebbte, wandte Midori sich mir zu. Erstaunt bemerkte ich die Sorge in ihrem Gesicht. Dann begriff ich.
«Hast du … du hast bestimmt das mit Harry gehört», sagte sie.
Ich nickte.
«Es tut mir Leid.»
Ich wartete eine Sekunde, dann sagte ich: «Er ist ermordet worden, weißt du. Die Privatdetektive, die du auf ihn angesetzt hast, haben die falschen Leute verständigt.»
Ihr Mund klappte auf. «Aber … man hat mir gesagt, es war ein Unfall.»
«Das ist Schwachsinn.»
«Woher weißt du das?»
«Die Umstände. Irgendwann dachten sie, sie hätten mich, also meinten sie, sie brauchten ihn nicht mehr. Außerdem war sein Magen voll Alkohol. Aber Harry hat nicht getrunken.»
«Oh Gott», sagte sie, eine Hand vor dem Mund.
Ich sah sie an. «Such dir beim nächsten Mal eine Detektei aus, die es etwas genauer mit ihrer Verschwiegenheitspflicht nimmt.»
Sie schüttelte den Kopf, noch immer die Hand vor dem Mund.
«Entschuldige», sagte ich und sah zu Boden. «Das war nicht fair. Die einzigen, die Schuld daran haben, sind die Leute, die es getan haben. Und Harry, weil er so naiv war.» Ich erzählte ihr eine entschärfte Version der Ereignisse, dass sie ihm eine Falle gestellt hatten und er nicht hatte auf mich hören wollen.
«Ich habe ihn sehr gern gehabt», sagte sie, als ich fertig war. «Ich war unsicher, ob er mich nicht vielleicht angelogen hat, als er mir erzählte, dass du tot bist. Deshalb habe ich die Leute beauftragt, ihn zu beobachten. Aber auf mich hat er gewirkt wie ein guter Mensch. Er war nett und schüchtern, und ich habe gemerkt, dass er zu dir aufsah.»
Ich lächelte matt. Harrys Laudatio.
«Wenn ich du wäre», sagte ich, «wäre ich hier in Tokio vorsichtig. Sie haben meine Spur verloren, aber sie werden weiter nach mir suchen. Falls sie wissen, dass du hier bist, könnten sie sich auch für dich interessieren. Wie für Harry.»
Eine lange Pause trat ein. Dann sagte sie: «Ich fliege morgen sowieso wieder nach New York.»
Ich nickte langsam, wusste, was jetzt kam.
«Hiernach werde ich dich nicht mehr wiedersehen», sagte sie.
Ich versuchte ein Lächeln. Es geriet fast wehmütig. «Ich weiß.»
«Ich habe herausgefunden, was ich von dir will», sagte sie.
«Ach ja?»
Sie nickte. «Zuerst dachte ich, ich wollte Rache. Ich habe ständig überlegt, wie ich dich verletzen, dir Schmerz zufügen kann, wie der Schmerz, den du mir angetan hast.»
Das wunderte mich nicht.
«Und deshalb war ich wütend auf dich», fuhr sie fort, «weil ich Hass schon immer für ein unwürdiges Gefühl gehalten habe. So schwach und letztlich so sinnlos.»
Ich staunte kurz, was für ein unschuldiges Leben jemand gehabt haben musste, damit so eine Philosophie glaubhaft und unzerstört blieb, und eine Sekunde lang liebte ich sie dafür.
Sie trank einen Schluck von ihrem Ardbeg. «Aber durch die Begegnung neulich mit
Weitere Kostenlose Bücher