Tokio Killer 06 - Letzte Vergeltung
die Hecks inspizierte.
»Da ist es«, sagte er und spazierte weiter Richtung Ende des Piers, als würde er all die eleganten Yachten bestaunen. »Auf halber Höhe. Bin gerade dran vorbeigegangen.«
»Ich komme«, sagte ich und stieg aus dem Van. Ich hatte eine Angelrute in der Hand, die HK versteckt unter dem Overall am Oberschenkel, und mein Herz raste.
Ich überquerte den Parkplatz, der in drückender Hitze lag. Vor mir befand sich ein Backsteingebäude; von den Satellitenfotos her wusste ich, dass dahinter ein Swimmingpool lag, von dem jetzt Kinderlachen bis zu mir herüberdrang. Zwei Chinesen in Golfmontur kamen aus dem Clubhaus, vermutlich auf dem Weg zu irgendeinem Golfplatz in der Umgebung. Sie schenkten mir keinerlei Beachtung, als sie an mir vorbeigingen.
Ich ging geradewegs die Zufahrt zum Kai hinunter, blickte unaufhörlich nach rechts und links und hielt Ausschau nach einer möglichen Gefahr, entdeckte jedoch vorläufig keine.
»Keine Wachen auf dem Boot zu sehen«, sagte Boaz.
»Verstanden«, sagte ich, schon fast am zweiten Pier.
»Ich finde, das hier ist eine gute Stelle, um ein paar Fotos zu machen.«
Ich ging weiter, ließ den Blick schweifen. Auf den Decks einiger Boote waren kleine Partys im Gange, begüterte Chinesen mittleren Alters und Ausländer mit weißen Kapitänsmützen, Frauen in Shorts und Bikinioberteilen. Der Geruch von Bier und Gegrilltem lag in der Luft, unbeschwertes Gelächter ertönte. Ich passierte etliche Leute, die vom Clubhaus kamen oder auf dem Weg dorthin waren, alle in Shorts und Bootsschuhen, sonnengebräunt und mit einem strahlenden Lächeln. Das Leben meinte es gut mit diesen Leuten. Keiner von ihnen achtete auf mich.
Ich war jetzt am vierten Kai und konnte Boaz sehen, der in der Mitte des fünften stand. Er hatte ein Stativ aufgestellt, auf dem etwas montiert war, das aussah wie eine Profifotolampe. Die Lampe befand sich in der Mitte eines großen Metallschirms, und das Ganze war mit einem ungemein großen rechteckigen Akkupack verbunden. Er hantierte an den Reglern eines Gerätes herum, das der Durchschnittsmensch für einen Belichtungsmesser halten würde.
»Sind Sie bereit?«, sagte ich.
»Ja.«
Ich bog auf den fünften Pier und ging auf Boaz zu. Die Handschuhe, die Kanezaki umsichtigerweise mitgebracht hatte, steckten in meiner Tasche, und ich zog sie im Gehen über. Ich legte die Angelrute hin, griff dann in den Overall und holte die HK hervor. Ich hielt sie ans Bein gedrückt, die Mündung des Schalldämpfers reichte mir bis übers Knie, und ging weiter. Ich wünschte mir eine Möglichkeit, wo ich notfalls in Deckung gehen oder mich verstecken konnte, aber ich musste mich mit den Gegebenheiten abfinden. Ich hoffte, Boaz’ Strahlenwaffe war so gut, wie er behauptet hatte.
»Fünf, vier, drei, zwei, eins«, sagte ich, während ich weiter auf ihn zuschlenderte. »Jetzt.«
33
ZUERST DACHTE DOX, die Hitzewallung wäre eine Angstreaktion. Immerhin kniete ein sadistischer Soziopath, den er in eine mörderische Weißglut getrieben hatte, auf seiner Brust und war drauf und dran, ihn zu kastrieren. Es grenzte ohnehin an ein Wunder, dass er sich noch nicht in die Hose gepinkelt hatte.
Aber eine halbe Sekunde später wusste er, dass das keine Hitzewallung war, obwohl ihm keine bessere Erklärung dafür einfiel. Es war ein Gefühl, als hätte er eine heiße Glühbirne berührt, aber nicht nur mit den Fingern, sondern mit dem ganzen Körper. Dann, noch ehe er in Gedanken die Worte Was zum Henker? zu Ende formulieren konnte, brannte sein ganzer Körper, als hätte jemand ihn mit Kerosin übergossen und angezündet. Er heulte vor Schmerz und wand sich unter Festers Knie. Dann war Fester von ihm runter und wälzte sich kreischend auf dem Boden, als ob seine Klamotten in Flammen ständen und er das Feuer ersticken wollte.
Dox zerrte an den Ketten, überzeugt, dass er brannte, und völlig verwirrt, weil er nicht wusste, wieso und warum kein Feuer zu sehen war – dann konnte er nur noch brüllen und hoffen, dass es bald vorbei war.
34
EINE SEKUNDE NACHDEM BOAZ das Gerät aktiviert hatte, drang aus dem Bauch des Bootes ein wüstes Geschrei. Unter den Stimmen erkannte ich Dox’ Bariton und wurde von widerstreitenden Gefühlen ergriffen: Erleichterung, dass er am Leben war, und Entsetzen über die Schmerzen, die einen derart gequälten Schrei auslösen konnten.
Ich stand hilflos da, hielt die HK jetzt mit beiden Händen vor mich und wartete, dass irgendwer vom Boot
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