Tokio Killer 06 - Letzte Vergeltung
hätte mich beides gekostet. Andererseits konnte ich auch nicht zu lange damit warten, denn früher oder später würde er erfahren, wann Jannick gestorben war, und es sollte nicht so aussehen, als wollte ich Zeit rausschinden. Aber ich konnte die Sache etwas verlangsamen. Wenn ich am Morgen einen Anruf für einen späteren Zeitpunkt vereinbarte, würde mir das zusätzlich vierundzwanzig Stunden oder vielleicht mehr verschaffen. Und mit etwas Glück hatte Kanezaki bis dahin neue Informationen.
Kanezaki. Er würde nicht begeistert sein, wenn er die Identität der ersten Zielperson erst nach vollbrachter Tat erfuhr. Ich würde seinen Argwohn so gut ich konnte dämpfen müssen. Ich ging nach draußen und rief ihn von einem Münztelefon an.
»Haben Sie was für mich?«, fragte ich, als er sich meldete.
»Nein. Haben Sie denn nicht …«
»Was ist mit dem Handy, das Sie orten wollen?«
»Er lässt es die ganze Zeit ausgeschaltet. Kein Wunder. Hören Sie, haben Sie denn nicht im Bulletin Board nachgesehen?«
»Doch, ich hab Ihnen eben eine Nachricht reingestellt. Name der ersten Person auf der Liste und noch ein paar zusätzliche Angaben.«
»Hat Ihnen unser Freund die Liste gegeben?«
»Nur den ersten Eintrag. Und die Sache ist bereits erledigt.«
»Sie ist bereits … Sie waren doch vor achtundvierzig Stunden noch hier. Wie können Sie … Sie verarschen mich. Sie müssen schon gewusst haben, um wen es geht, als Sie hier waren. Sonst hätten Sie das nie so schnell schaffen können.«
»Ich verarsche Sie nicht. Ich wusste bloß, dass ich nach Kalifornien fliegen sollte. Die Informationen haben auf mich gewartet, als ich gestern angekommen bin. Ich hab einfach Schwein gehabt und eine günstige Gelegenheit beim Schopf ergriffen. Ich bin nicht dazu gekommen, Sie früher zu informieren, und ich informiere Sie jetzt.«
Langes Schweigen trat ein. Ihm war klar, dass ich es früher gewusst hatte. Aber was wollte er machen?
»Ich warte jetzt auf den zweiten Namen«, sagte ich. »Sobald ich den habe, sage ich Ihnen Bescheid. Bis dahin sehen Sie nach, was ich Ihnen ins Bulletin Board gestellt habe, und versuchen Sie, das mit dem abzugleichen, was ich Ihnen bereits erzählt habe. Ich ziehe die Sache so weit in die Länge, wie ich kann.«
»Versuchen Sie nicht, mich aufs Kreuz zu legen.«
»Wieso sollte ich? Wir wollen beide dasselbe. Es ist nur eine Frage des Timings. Ich melde mich morgen wieder, okay?«
Er wartete einen Moment, dann sagte er: »Okay.«
Zurück im Hotel, nahm ich eine lange, heiße Dusche. Dann machte ich Feuer im Kamin, setzte mich mit einem Handtuch um die Taille davor und starrte in die Flammen. Ich hatte seit über acht Stunden nichts gegessen, und ich dachte, ich sollte etwas zu mir nehmen. Aber ich hatte keinen Hunger.
Ich wollte irgendetwas empfinden. Erleichterung, dass ich Dox Zeit verschafft hatte. Entsetzen, dass ich gerade einen Menschen getötet hatte, vermutlich einen Ehemann und Vater, keine Meile von seinem Haus entfernt, auf dem Weg zu seiner Familie. Angst, dass ich irgendetwas übersehen hatte, dass die Polizei oder, schlimmer, Hilger und seine Leute genau in diesem Augenblick dabei waren, meine Koordinaten zu kartographieren, meine Position zu orten, bereits anrückten, um mir den Garaus zu machen..
Aber ich empfand nichts. Es war, als wäre eine Art emotionales Rückenmark durchtrennt worden, mein Geist nur noch nutzlos und stumpf.
Die Stumpfheit beunruhigte mich. So hatte ich mich immer gefühlt, oder besser gesagt, nicht gefühlt, nachdem ich einen Auftrag ausgeführt hatte. Klinisch, analytisch, gleichgültig. Das Problem in Manila, als ich erstarrt war, statt ein Kind zu traumatisieren, indem ich vor seinen Augen seinen Vater tötete, war für mich tatsächlich eine Art Durchbruch gewesen, obgleich mir das erst hinterher klargeworden war. Es war das erste Anzeichen dafür gewesen, dass der Killer in mir vielleicht doch nicht mein ganzes Ich war, der erste Riss im Eis dessen, was mich ausmachte. Aber jetzt war der Eismann wieder da. Und offenbar nicht nur für die Arbeit. Auch für das Nachspiel. Für alles.
All das war schon schlimm genug. Aber noch schlimmer war, wie vertraut es sich anfühlte. Wie ein Lieblingssessel oder das Essen deiner Kindheit oder ein altes, wunderbar eingelaufenes Paar Schuhe, das sich genau richtig anfühlt, wenn du es nach langer Zeit wieder anziehst.
Ich redete mir ein, dass es keinen Grund zur Beunruhigung gab. Wieder ich selbst zu sein
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