Tokio Killer05 - Riskante Rückkehr
wissen.
»Kann ich mit hochkommen?«
Sie schwieg.
»Nur eine Minute«, hörte ich mich sagen.
Nach kurzem Zögern nickte sie. Wir gingen ins Haus. Ich hatte zwar nirgendwo Kameras gesehen, ging aber davon aus, dass die Lobby irgendwie überwacht wurde, und hielt den Kopf gesenkt. Midori begrüßte den Portier mit: »Hallo, Ken«, und wir stiegen in den Aufzug. Sie blickte mich auf der Fahrt nach oben nicht an. Wir sprachen kein Wort.
Im siebzehnten Stock stiegen wir aus und gingen den Korridor hinunter. Sie schloss eine Tür auf, und wir betraten einen hübsch eingerichteten Wohnraum. Dunkler Holzboden, Gabbeh-Teppiche, Schwarz-Weiß-Fotos von kahlen Winterbäumen. Ein gemütlich aussehender Polstersessel und eine Couch. Eine Kinderschaukel stand in der Ecke, umgeben von bunten Spielsachen. Wir zogen Jacke und Schuhe aus und gingen hinein. Ich schälte mich auch aus der doppelten Fleeceschicht. Ich brauchte sie nicht mehr, und in der Wohnung war es warm.
Eine hübsche, braunhäutige Frau trat aus der Tür, die, wie ich vermutete, ins Kinderzimmer führte. Sie bedachte mich mit einem kurzen Blick, sah dann Midori an.
»Alles in Ordnung, Digne?«, fragte Midori.
Die Frau nickte. »Der kleine Engel schläft. Ich ihm großes Fläschchen gegeben, bevor er einschläft.«
Sie hatte einen Latina-Akzent. Ich tippte auf El Salvador.
Midori nickte. »Danke. Dann bis morgen Abend, ja?«
»Natürlich.« Die Frau nahm einen Mantel von der Couch, schlüpfte in ihre Schuhe und blieb an der Tür stehen. Sie lächelte und sagte: »Oyasumi nasai« , mit einer ganz passablen japanischen Aussprache. Gute Nacht.
Midori lächelte ebenfalls und sagte: »Buenas noches. «
Die Frau zog die Tür hinter sich zu.
Wir standen da. Ich hörte eine Uhr an der Wand ticken.
»Wie … wie alt ist er?«, fragte ich nach einem Moment.
»Fünfzehn Monate.«
Das kam ungefähr hin. Seit unserer letzten Nacht in Tokio waren fast genau zwei Jahre vergangen.
»Wie ich höre, hast du ihn Koichiro genannt«, sagte ich in Erinnerung an mein Gespräch mit Tatsu.
Sie nickte.
»Ein schöner Name.«
Sie nickte wieder.
Ich überlegte, was ich sagen konnte, was nicht banal klingen würde. Mir fiel nichts ein.
»Bist du glücklich?«, fragte ich.
Wieder bloß ein Nicken.
»Herrje, Midori, würdest du wenigstens mal was sagen?«
»Deine Minute ist um.«
Ich wandte den Blick ab, sah sie dann wieder an. »Das meinst du nicht im Ernst.«
»Falls du’s vergessen hast: Du hast meinen Vater umgebracht.«
Ich stellte mir vor, wie ich sagte, Ach komm, das Thema hatten wir doch schon durch, entschied mich aber lieber dagegen.
»Wieso hast du dann das Kind bekommen?«, fragte ich.
Sie blickte mich mit starrer ausdrucksloser Miene an. »Als feststand, dass ich schwanger war«, sagte sie, »wusste ich auf einmal, dass ich das Kind wollte. Dass es von dir ist, war nebensächlich.«
Sie war extrem verletzend, und auf einmal kam mir der Gedanke, dass das vielleicht Absicht war. Dass sie sich vor etwas schützen wollte, vor dem sie Angst hatte.
»Hör mal, ich kann mir vorstellen, wie du dich fühlst …«, setzte ich an.
»Nein, das kannst du nicht.«
»Ich hab dir gesagt, das mit deinem Vater tut mir leid. Aber wie du weißt, habe ich anschließend getan, was ich konnte, um Wiedergutmachung zu leisten. Um seine Wünsche zu erfüllen.«
Ich hatte schon auf den Lippen, Und vergiss nicht, er hatte Lungenkrebs, er wäre ohnehin gestorben. So wie ich es gemacht habe, hat er wenigstens nicht gelitten.
Aber ich hatte so ein Gefühl, dass sie das als Schönfärberei verstehen würde. Und vielleicht war es das ja auch.
»Tja, du hast nicht genug getan«, sagte sie.
»Dann willst du mich also bestrafen«, sagte ich.
Sie schwieg lange. Dann sagte sie: »Ich will nicht, dass du in seinem Leben eine Rolle spielst. Oder in meinem.«
Da war es. Genau das, wortwörtlich, wovor ich mich gefürchtet hatte. Es hing in der Luft zwischen uns.
»Was willst du ihm sagen?«, fragte ich. »Dass sein Vater tot ist?«
Die Lüge wäre durchaus sinnvoll. Aber die Vorstellung entsetzte mich. Wenn sie es nämlich aussprach, so wurde mir klar, würde es in vielerlei Hinsicht wahr, in entscheidender Hinsicht.
»So genau hab ich noch nicht darüber nachgedacht«, sagte sie.
»Aber das solltest du vielleicht. Vielleicht solltest du darüber nachdenken, was ihn das kosten würde.«
Sie lachte bitter.
»Kann ich dich was fragen?«, sagte sie dann.
Ich nickte.
»Wann hast
Weitere Kostenlose Bücher