Tom Thorne 06 - Die Geliebte des Mörders
hält zur Familie, das versteh ich ja. Wir haben beide erlebt, dass Menschen zu Verwandten hielten, die die schlimmsten Sachen gemacht hatten. So falsch das ist, finde ich es doch oft irgendwie ehrenhaft, verstehen Sie?«
Thorne verstand sehr wohl. Er hatte erlebt, dass Menschen von innen heraus aufgefressen wurden durch das, was ihnen nahestehende Menschen angetan hatten, und sich dennoch weigerten, sich von ihnen abzuwenden. Trotz allem darauf bestanden, zu ihnen zu halten. Und wenn sie die Einzigen waren.
»Aber alles hat seine Grenzen, finden Sie nicht?«
»Sie meinen die Kinder?«
»Genau. Es ist etwas anderes, wenn es um die eigenen Kinder geht. Egal, wie sehr man seinen Bruder oder seinen Vater oder seinen Mann liebt, die eigenen Kinder kommen an erster Stelle, so ist es doch?«
»Vielleicht hält sie ihn wirklich für unschuldig«, sagte Thorne.
Porter war davon nicht überzeugt. »Ich glaube, Freestone ist inzwischen ehrlich, was die alten Sachen angeht. Was seine Vorlieben sind. Worauf er steht. Wir reden hier über seine Neffen, Jungen, die ihm vertrauen, mein Gott noch mal.«
»Ich weiß …«
»Und was, wenn es noch andere Kinder gegeben hat?« Als wäre es unverzeihlich, dies nicht zu wissen. »Wir haben keine Ahnung, was er die letzten fünf Jahre getrieben hat.«
»Wahrscheinlich hat er versucht, sich so unauffällig wie möglich zu benehmen.«
»Darum mach ich mir weniger Sorgen.« Sie hielt kurz inne, bevor sie die Frage stellte. Als sei ihr Thornes Antwort wichtig. »Glauben Sie, so jemand wie Freestone kann sich ändern?«
»Scheiße«, sagte Thorne. »Steht das hier zur Debatte?«
»Wir reden doch bloß.«
»Wie Sie sagten, es ist eine Vorliebe. Er steht drauf. Und worauf immer wir stehen, meistens bleiben wir dabei.« Er zögerte, kam sich komisch vor, als er nach den richtigen Worten suchte. »Ich denke … ich bin nicht überzeugt, dass man mich dazu bringen könnte, auf Männer zu stehen, egal wie viel Therapiestunden Sie mir aufbrummten.«
»Okay. Und ich verstehe, dass Menschen, die andere missbrauchen, selbst missbraucht worden sind. Es gibt ja genug Untersuchungen dazu. Es ist bloß …«
»Ich weiß …«
»Ich hab mich in sie hineinversetzt, in Jane. Ich könnte es nicht. Klar, es ist nur hypothetisch, aber ich glaube, ich müsste die Verbindung zu ihm abbrechen. Mein Gott, mit Kindern, da weiß man doch, was die Eltern der Kinder durchgemacht haben, an denen er sich vergangen hat. Damit muss man dann leben.«
»Wahrscheinlich, ja.«
Angewidert und unerbittlich schüttelte sie den Kopf.
»Mir wär es lieber gewesen, er wär im Gefängnis geblieben.«
Sie saßen in einem der großen CID-Büros im dritten Stock. Abgeschnitten von ihrer Ermittlungszentrale drüben im Becke House war dies der einzige Ort, an dem sie einigermaßen ungestört sprechen konnten. Darüber, welche Fortschritte der Fall machte oder nicht machte, und wo sie einfach ein paar Minuten durchatmen konnten.
Dennoch wurden sie fortwährend unterbrochen. Ständig kamen Kollegen der diversen Colindale-Squads in den Raum. Man grüßte sich freundlich, was ungewöhnlich war. Normalerweise begegneten sich die, die ständig in Colindale arbeiteten, und Kollegen wie Porter und Thorne, die es wegen seiner Ausstattung benutzten, eher reserviert. Dabei ging es um Kleinigkeiten, wem was gehörte: unser Verhörraum, unsere Haftzelle, unser Tee, unsere Kekse. Doch bis jetzt hatte es nur interessierte Nachfragen gegeben, wie es laufe, und man hatte sowohl Thorne als auch Porter immer wieder Glück gewünscht.
Es sprach sich immer rum in einer Polizeiwache, wenn etwas Größeres im Gange war. Die Atmosphäre änderte sich.
Aus den vielen offenen oder etwas zu laut hinter vorgehaltener Hand geflüsterten Kommentaren ging eindeutig hervor, dass Grant Freestones Vergangenheit – die Verbrechen, wegen derer er Mitte der neunziger Jahre verurteilt worden war – nicht ohne Wirkung auf die Meinungsbildung blieb. Ihre Spuren bei den anderen ebenso hinterließ, wie sie diese bei Louise Porter hinterlassen hatten. Was erklärte, warum man ihnen ständig so viel Glück wünschte …
Thorne trank seinen Tee und sah Porter dabei zu, wie sie langsam ihrer Diätcola und der zweiten Packung Chips zu Leibe rückte. An der Wand gegenüber befand sich eine große weiße Tafel, bedeckt mit Namen, Fotos und durchnummerierten Aufzählpunkten. Nach oben und unten gerichtete Linien und Pfeile verbanden die Vergrößerung eines
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