Torso
Sie aß zwar fast nichts zu Abend, aber die zwei Gläser Wein, die sie trank, dämpften vor allem ihren Widerstand gegen seinen Vorschlag, doch besser eine Schlaftablette zu nehmen, um nicht die ganze Nacht wach zu liegen.
Als sie endlich schlief, ging er in sein Arbeitszimmer. Was konnte er nur tun? Warten? Aber worauf. Auf einen anonymen Anruf? Eine Forderung? Er starrte auf das Telefon.
Es war fast Mitternacht. Wenn Inga sich bis morgen früh nicht gemeldet hatte, würde Ulla durchdrehen. Das stand fest. Seine kleine Notlüge war sicher richtig gewesen. Aber morgen? Was dann? Und wie lange konnte er selbst diese Ungewissheit ertragen? Wo zum Teufel steckte sie nur? Beim Gedanken an seine Tochter wurde ihm allmählich selbst bang. Mit jeder Stunde, die verging, schrumpfte die Zahl der möglichen Erklärungen für ihre Abwesenheit zu der entsetzlichen Gewissheit zusammen, dass ihr tatsächlich etwas zugestoßen war.
Um halb vier Uhr morgens klingelte plötzlich das Telefon. Zietens Herz schlug bis zum Hals, als er den Hörer abnahm.
»Zieten«, sagte er so bestimmt er konnte.
»Hast du etwas von Inga gehört?«
Jochen Friesers Stimme klang völlig anders als sonst.
»Nein«, antwortete er. »Aber nett, dass du morgens um halb vier an mich denkst.«
»Hör zu, Hajo«, fuhr Frieser nach einer kurzen Pause fort. »Ich fürchte, ich habe schlechte Nachrichten. Ich bin bei einem Einsatz in Charlottenburg. Kurfürstendamm 71.«
»Was ist da passiert, Jochen? Das ist eines unserer Büros.«
»Ich weiß. Das heißt, ich habe es gerade eben erst von einem deiner Mitarbeiter erfahren.«
»Was für Mitarbeiter?«
»Uwe Marquardt und Günther Sedlazek. Sie werden gerade befragt.«
»Das sind die Geschäftsführer der BIG .«
»Ja. Bei ihnen stehe ich gerade.« Frieser senkte die Stimme. »Hör mir gut zu, Hajo: Hier sind vor einer Stunde Leichenteile gefunden worden. Es ist seit letztem Freitag schon der dritte Vorfall dieser Art. Wir arbeiten unter Hochdruck daran. Irgendein Irrer. Das heißt, bisher wissen wir überhaupt nichts …«
»Leichenteile! O Gott, Jochen, es ist doch nicht Inga«, unterbrach er ihn.
»Nein, nein, es ist nicht Inga. Das steht fest. Es ist irgendeine Unbekannte. Wir haben andere Körperteile dieser Frau schon vor ein paar Tagen in Lichtenberg und Tempelhof gefunden. Aber einen Zusammenhang gibt es offenbar doch.«
Zieten wollte etwas sagen, aber er war dazu nicht mehr in der Lage.
»Die Körperteile wurde gegen zwei Uhr entdeckt. Der Sicherheitsdienst hat die Geschäftsführer alarmiert, und die haben dann die Polizei verständigt. Da ich für den Fall zuständig bin, hat die Mordkommission mich natürlich gleich informiert, und ich bin sofort hergekommen. Das Problem ist Folgendes, Hajo: Einer deiner beiden Geschäftsführer, ich glaube, Marquardt, hat vorhin an seinem Wagen eine ähnliche Botschaft gefunden, wie du sie mir gestern Abend gezeigt hast. Es ist genauso ein komischer, altertümlicher Druck. Diesmal ist eine Frau darauf abgebildet, die eine abgeschlagene Hand und einen Kopf in den Händen trägt. Und es steht ein lateinischer Spruch darüber.«
»Wir müssen uns sofort sehen«, sagte Zieten erregt.
»Nein, Hajo. Ich kann jetzt hier nicht weg. Unmöglich. Hier ist die Hölle los. Es wimmelt von Polizei und Spurensicherung. Allein die Tatsache, dass ich dich überhaupt anrufe, ist schon ziemlich unorthodox. Aber nach unserem Gespräch gestern wollte ich nicht warten. Und ich brauche so schnell wie möglich die beiden Zeichnungen, die du mir gestern gezeigt hast. Kann ich einen Boten vorbeischicken?«
Zieten rieb sich die Schläfen. Er war es gewöhnt, komplexe Situationen zu beurteilen, aber diese überforderte ihn. Was in drei Teufels Namen spielte sich hier bloß ab?
»Jochen, warte. Was heißt das? Du kannst mich da auf keinen Fall mit hineinziehen. Sind wir uns da einig? Ich habe es dir doch erklärt.«
»Hajo, ich bitte dich. Wie es aussieht, stehen sowohl du als auch Herr Marquardt und vielleicht sogar deine eigene Tochter im Fadenkreuz eines vermutlich geisteskranken Leichenschänders. Die Mordkommission wird mit dir sprechen wollen …«
»Jochen, warte. Das kannst du nicht machen.«
Es wurde kurz still. »Was kann ich nicht machen?«
Zieten stand auf und ging nervös einige Schritte hin und her. Leichenteile? Kryptische Drohbotschaften? Woran erinnerte ihn das? An einen Bluff? Zietens Instinkt war erwacht. Spielte da nicht jemand ein schmutziges Spiel
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