Tot ist nur, wer vergessen ist (German Edition)
Möglichkeit, an die Fingerabdrücke zu kommen?«
Er schüttelte den Kopf und lächelte bedauernd. »Nein, Ma’am. Von den Fingern ist nur noch ein Rest Knochen übrig.«
Das war zu erwarten gewesen. Eine Leiche, die einige Zeit im Wasser liegt, zieht immer Fische an. Und die knabberten meistens als Erstes die weichen Körperteile wie Nase, Ohren und Finger ab. Sie ließ den Kopf zwischen die Knie sinken, fühlte sich immer noch ein wenig klamm. »Dann kann ich nicht beweisen, dass es Leo Richland ist. Es sei denn, wir nehmen eine DNA -Probe, aber das würde dauern.«
Er setzte sich so dicht neben sie, dass sich ihre Oberschenkel berührten. »Und ich frage noch einmal: Wer ist Leo Richland?«
Caitlyn nahm einen tiefen Atemzug. Die Sonne war inzwischen untergegangen, in das blaue Dämmerlicht mischten sich die hellen kleinen Lichtblitze der Glühwürmchen. Die Luft war getränkt vom Duft der Rosen, von Lavendel und Rosmarin. Es wäre eine perfekte Sommernacht, wenn da nicht diese eine Sache wäre: Sobald sie hier fertig war, würde sie ihre Arbeitsstelle aufgeben müssen.
Der Migräneanfall von gestern Abend war nur ein Warnschuss gewesen. Nichts im Vergleich zu dem Gemetzel von heute. Ausgeschlossen, dass sie weiterhin eine Waffe trug oder ihrer Arbeit als Agentin nachging.
»Hey, ist alles in Ordnung?« Hal nahm ihre Hand. »Vielleicht rufe ich besser einen Krankenwagen. Der könnte sie nach Albany ins Krankenhaus bringen?«
»Nein. Ich kenne diese Ärzte und ihre endlosen Untersuchungen. Das habe ich alles schon mitgemacht, und einmal hat gereicht.« Fremde Menschen, die ihr verkündeten, es gäbe keine Hoffnung mehr, ihr erklärten, dass ihr das Leben verwehrt sein würde, von dem sie seit ihrer Kindheit geträumt hatte – bei der Vorstellung verspannte sie sich sofort wieder.
»Was ich brauche, ist jemand, dem ich vertrauen kann. Falls ich das hier selbst nicht zu Ende bringen kann. Jemanden, der Logan und seine Lügen auffliegen lässt, der die Antworten findet, um die mich Sarah Durandt angefleht hat.« Wie ein Sturzbach flossen die Worte aus ihr heraus. Nachdem sie es ausgesprochen hatte, fühlte sie sich endlich besser. Als ob sie die Kontrolle über ihr Leben wieder zurückgewonnen hätte.
Hal atmete tief durch und pfiff leise durch die Zähne. Dann drückte er ihre Hand. »Also gut! Warum verraten Sie mir nicht, was hier wirklich vorgeht.«
Und das tat sie. Alles, was sie wusste, alles, was sie nicht wusste, sondern nur vermutete, da sie es nicht beweisen konnte.
»Sie denken also, dass der Russe – wie hieß er noch gleich?«
»Korsakov«
»Dass Korsakov Ihren Vorgesetzten Logan geschmiert hat, um diesen Richland herzuschicken, damit er Sam – ich meine Stan – umbringt und den Mord anschließend Damian Wright anhängt?«
Sie antwortete nicht gleich. So, wie er das zusammenfasste, klang es abwegig. »Ja. Erinnern Sie sich noch daran, mit wem Sie gesprochen haben, als Sie damals wegen Wright beim FBI angerufen haben? Haben Sie irgendetwas in dem Motelzimmer gesehen, das auf einen Einbruch hindeuten könnte? Irgendjemand könnte die Speicherkarte an sich gebracht und sie am Tatort platziert haben. Sind in dieser Zeit außer Wright noch irgendwelche Fremden hier im Ort aufgefallen?«
Er hob eine Hand. »Immer langsam. Das ist fast zwei Jahre her. Dazu müsste ich die alten Akten rauskramen.«
Sie stand auf, schwankte, fing sich aber schnell und atmete tief durch. Keine Kopfschmerzen, nur leichter Schwindel und ein schwaches Stechen hinter den Augen. »Gehen wir besser. Wir haben – ich habe – vielleicht nicht mehr viel Zeit.«
Caitlyn fröstelte in der kühlen Nachtluft, er stand neben ihr und legte einen Arm um ihre Taille. »Das ist nicht gerade beruhigend, wenn Sie so reden.«
Caitlyn wandte sich ihm zu, das Gesicht nur wenige Zentimeter von seinem entfernt, und blickte ihm direkt in die Augen. »Ich werde nicht aufgeben. Niemals.«
Er zog mit einem Finger ihre Kieferlinie nach und nickte ernst. »Das hat meine Frau auch immer gesagt.« Er zog die Hand zurück. »Das war ein Dickkopf, genau wie Sie. Sie hätten Lily gemocht – die war auch kein Freund von Ärzten.«
* * *
Sam hatte gedacht, der Bauchschuss wäre schmerzhaft gewesen. Aber das war nichts im Vergleich zu den Seelenqualen, die er heute Nacht durchlitten hatte, als er durch ein Fernglas mit ansehen musste, wie Alan Easton seine Frau tröstete. Wie der Kerl Sarah angeschaut, zärtlich ihre Hand gehalten, ihr einen
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