Tote Dichter lügen nicht: Roman (German Edition)
hätte sich an die klassische Baudelaire-Lexik gehalten, damit es authentischer wirkt. Als Duft hätte er eher Amber oder Benzoe erwähnt statt zum Beispiel Vanille. Können Sie mir folgen?«
Natürlich konnten alle ihm folgen! Er war unwiderstehlich, ihr Assistent!
» Zunächst also, in Anbetracht des Gedichts– vor allem Vermutungen. Es gibt einen viel entscheidenderen Beweis, der nur leider nicht auffindbar ist: Monsieur Saint-Croÿ, von dem ich sprach, erinnert sich, vor langer Zeit einen Brief in Händen gehabt zu haben, wo ein Parnassien, ein Angehöriger der französischen Dichtergruppe, einem Freund von einer Abendgesellschaft berichtet, bei der Baudelaire anwesend war und die Hörerschaft mit seinem spaltbreit geöffneten Tempel verzückt haben soll…«
Im Saal meldete sich jemand. » Um genauer zu werden, es handelte sich um einen Brief von Pierre Dupont an Ernest Prarond, er erwähnte dort einen literarischen Abend in der Rue de Seine, bei Louis Ulbach, also um 1842 herum.«
Der Saal hatte sich dem Redner zugewandt, der ein sanftes Lächeln aufgesetzt hatte.
» Ich bin Louis Saint-Croÿ, Leiter der Gazette baudelairienne. Verzeihen Sie, gerade heute Morgen habe ich eine alte Notiz zu diesem Brief wiedergefunden. Den Brief selbst besitze ich nicht: Man hat ihn mir vor über zehn Jahren angeboten, aber zu einem viel zu hohen Preis für so eine kleine Mitteilung, in der Baudelaire nur erwähnt wird. Damals glaubte ich, der ›spaltbreit geöffnete Tempel‹ von dem Pierre Dupont spricht, sei der Name eines Gemäldes– Baudelaire kaufte häufig welche und verkaufte sie später mit großem Verlust weiter. Ich habe mir nicht notiert, wer der Verkäufer dieses Briefs war, das tut mir leid, ich treffe jedes Jahr auf Dutzende davon. Immer wenn ein altes Dokument auftaucht, in dem Baudelaire erwähnt wird, bin ich der Erste, den man damit aufsucht. Aber meine Sammlung ist keine Ansammlung, sondern eine Auswahl: Ich kaufe nicht alles. Ich gebe das Wort zurück an den Lieutenant, der sehr schön von Baudelaire spricht, ich könnte es nicht besser.«
Lieutenant Monot ergriff wieder das Wort. » Die Fragen, die man sich nun stellen muss, lauten: Warum blieb das Sonett so lange unentdeckt? Warum bringt es jenen den Tod, die sich ihm nähern? Haben diese beide Fragen etwas miteinander zu tun?«
Viviane war beeindruckt von der Art, an das Problem heranzugehen, man könnte meinen, ein Politiker. Warum war er zur Polizei gegangen? Eines Tages würde sie ihn das fragen. Er sprach so schön über Literatur.
» Ziehen wir das Datum in Betracht, das Herr Saint-Croÿ genannt hat, handelt es sich um ein Jugendwerk von Baudelaire, eine Erinnerung– gewürzt vom Duft seiner Reise auf die Bourbon-Insel. Und wenn das Gedicht so lange im Dunkeln geblieben ist, so weil es schlichtweg nicht zu veröffentlichen war. Keine Zeitschrift, kein Verleger hätte es gewagt, dem Publikum ein solch skandalöses Werk vorzulegen. Lethe, das von der Justiz inkriminiert wurde, hatte mit sehr viel weniger schockiert. Um Ihnen einige dieser sublimen Verse in Erinnerung zu rufen:
In deinen Röcken, die dein Duft erfüllt,
Will ich mein schmerzbeladenes Haupt vergraben,
Und mich am Dunst der toten Liebe laben,
Der wie aus welken Blüten zu mir quillt.«
Als Viviane diese Verse hörte, überkamen sie Schauer. War sie die Einzige im Publikum? Wie viele waren es, die davon träumten mit in Röcken vergrabenem Haupt zu versinken?
» Womöglich hat Baudelaire dieses Sonett bewusst in die Schublade gelegt, um seine Bewerbung bei der Académie Française nicht zu gefährden, die letztlich doch gescheitert ist. Das ist die glaubhafteste Lösung. Die andere ist gewagter: Das Gedicht ist Träger einer Gefahr, eines Geheimnisses, das nicht in jedermanns Hände fallen darf. Ein Geheimnis, das die Mörder zu beschützen suchen. Ich will nicht auf Da Vinci Code machen, mehr werden Sie von mir nicht hören. Ich hoffe, Sie nicht zum Tode verurteilt zu haben, indem ich es Ihnen vorgelesen habe. Aber ich kann Ihnen versichern, die Fernsehzuschauer haben es überlebt.« Monot unterstrich seine Worte mit einem herablassenden Lachen, das sich aufdrängte. Ein Murmeln ging durch den Saal, er breitete die Arme aus, um Ruhe zu schaffen. » Sollte die Liste der Toten länger werden, wird unsere Vernunft uns aber dazu nötigen, diese unsinnige Hypothese näher zu betrachten. Noch Fragen?«
Eine kleine zitternde Hand meldete sich. » Ich bin Journalistin bei Entre
Weitere Kostenlose Bücher